Der EuGH hat entschieden, dass Fluggesellschaften auch bei einem „wilden Streik“ des Flugpersonals zur Leistung von Ausgleichszahlungen verpflichtet sind, wenn sie Flüge nicht wie geplant durchführen können.

EuGH, 17. 4  2018, C-195/17, C-197/17 bis C-203/17, C-226/17, C-228/17, C-254/17, C-274/17, C-275/17, C-278/17 bis C-286/17 und C-290/17, C-291/17, C-292/17

Am 30.09.2016 kündigte das Management der deutschen Fluggesellschaft TUIfly der Belegschaft überraschend Pläne zur Umstrukturierung des Unternehmens an. Diese Ankündigung führte dazu, dass sich das Flugpersonal nach einem von den Arbeitnehmern selbst verbreiteten Aufruf während etwa einer Woche krank meldete. Zwischen dem 01. und dem 10.10.2016 stieg die Quote krankheitsbedingter Abwesenheiten, die normalerweise bei etwa 10% lag, auf bis zu 89% des Cockpit-Personals und bis zu 62% des Kabinenpersonals an. Am Abend des 07.10.2016 teilte das Management von TUIfly der Belegschaft mit, dass eine Einigung mit dem Betriebsrat erzielt worden sei. Wegen dieses „wilden Streiks“ wurden zahlreiche Flüge von TUIfly annulliert oder hatten eine Ankunftsverspätung von drei Stunden oder mehr. Da TUIfly der Ansicht war, dass es sich um „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne der Unionsverordnung über Fluggastrechte (Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – ABl. 2004, L 46, 1) gehandelt habe, weigerte sie sich jedoch, den betroffenen Fluggästen die darin vorgesehenen Ausgleichszahlungen (je nach Entfernung 250 Euro, 400 Euro oder 600 Euro) zu leisten. Das AG Hannover und das AG Düsseldorf, bei denen Klagen auf Leistung dieser Ausgleichszahlungen anhängig sind, fragen den EuGH, ob die spontane Abwesenheit eines erheblichen Teils des Flugpersonals in Gestalt eines „wilden Streiks“, wie er hier in Rede steht, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ fällt, so dass die Fluggesellschaft von ihrer Ausgleichsverpflichtung befreit sein könnte.

Der EuGH hat diese Frage verneint.

Nach Auffassung des EuGH fällt die spontane Abwesenheit eines erheblichen Teils des Flugpersonals (in Gestalt eines „wilden Streiks“, wie er hier in Rede steht) nicht unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“, wenn sie auf die überraschende Ankündigung von Umstrukturierungsplänen durch ein ausführendes Luftfahrtunternehmen zurückgeht und einem Aufruf folgt, der nicht von den Arbeitnehmervertretern des Unternehmens verbreitet wird, sondern spontan von den Arbeitnehmern selbst, die sich krank meldeten. Ein solcher „wilder Streik“ erlaube es der Fluggesellschaft nicht, sich von ihrer Verpflichtung zur Leistung von Ausgleichszahlungen bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen zu befreien. Die Risiken, die sich aus den mit solchen Maßnahmen einhergehenden sozialen Folgen ergeben, seien Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der Fluggesellschaft.

Der EuGH weist darauf hin, dass die Verordnung zwei kumulative Bedingungen für die Einstufung eines Vorkommnisses als „außergewöhnlicher Umstand“ vorsehe, und zwar, dass dieses Vorkommnis (1) seiner Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der Fluggesellschaft sei und (2) von dieser nicht tatsächlich beherrschbar sei. Dass es in einem Erwägungsgrund der Verordnung heiße, dass solche Umstände insbesondere bei Streiks eintreten könnten, bedeute noch nicht, dass ein Streik unbedingt und automatisch einen Grund für die Befreiung von der Ausgleichspflicht darstelle. Vielmehr sei von Fall zu Fall zu beurteilen, ob die beiden oben genannten Bedingungen erfüllt seien.

Im vorliegenden Fall seien diese beiden Bedingungen nicht erfüllt. Erstens gehörten Umstrukturierungen und betriebliche Umorganisationen zu den normalen betriebswirtschaftlichen Maßnahmen von Unternehmen. Somit sei es nicht ungewöhnlich, dass sich Fluggesellschaften bei der Ausübung ihrer Tätigkeit Meinungsverschiedenheiten oder Konflikten mit ihren Mitarbeitern oder einem Teil von ihnen gegenübersehen köntnen. Daher seien in einer Situation wie der, zu der es Ende September/Anfang Oktober 2016 bei TUIfly kam, die Risiken, die sich aus den mit solchen Maßnahmen einhergehenden sozialen Folgen ergeben, als Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der betreffenden Fluggesellschaft zu betrachten. Zweitens könne nicht angenommen werden, dass der hier in Rede stehende „wilde Streik“ von TUIfly nicht tatsächlich beherrschbar war. Abgesehen davon, dass er auf eine Entscheidung von TUIfly zurückzuführen sei, endete er trotz der hohen Abwesenheitsquote nach einer Einigung zwischen TUIfly und dem Betriebsrat vom 07.10.2016.

Der Umstand, dass diese Vorgehensweise der Belegschaft, weil sie nicht offiziell von einer Gewerkschaft initiiert wurde, als „wilder Streik“ im Sinne des einschlägigen deutschen Arbeits- und Tarifrechts einzustufen sein dürfte, spiele für die Auslegung des Begriffs „außergewöhnliche Umstände“ keine Rolle. Würde nämlich zur Klärung der Frage, ob Streiks als „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne der Verordnung über die Fluggastrechte einzustufen seien, darauf abgestellt, ob sie nach dem einschlägigen nationalen Recht rechtmäßig seien oder nicht, hätte dies zur Folge, dass der Anspruch von Fluggästen auf Ausgleichszahlung von den arbeits- und tarifrechtlichen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats abhinge; dadurch würden die Ziele dieser Verordnung beeinträchtigt, ein hohes Schutzniveau für die Fluggäste sowie harmonisierte Bedingungen für die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in der Union sicherzustellen.

Der Generalanwalt Tanchev hat in seinen Schlussanträgen vom 12.04.2018 dem EuGH noch vorgeschlagen von einem außergewöhnlichern, unvermeidbaren Umstand auszugehen, so dass Ausgleichszahlungen nicht zu erbringen gewesen wären:

1. Nur wenn ein für die Durchführung von Flügen erheblicher Teil des Personals des ausführenden Luftfahrtunternehmens aufgrund echter krankheitsbedingter Abwesenheit, die auf eine Pandemie oder einen anderen öffentlichen Gesundheitsnotstand zurückzuführen ist, fehlt, stellt dies einen „außergewöhnlichen Umstand“ i.S.v. Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.02.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Falle der Nichtbeförderung und Annullierung oder bei großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 dar. Die genaue Abwesenheitsquote, bei der in solchen Fällen von „außergewöhnlichen Umständen“ ausgegangen werden kann, ist vom vorlegenden Gericht unter angemessener Berücksichtigung sämtlicher relevanter Tatsachen festzulegen.

2. Die spontane Abwesenheit eines für die Durchführung von Flügen erheblichen Teils des Personals des ausführenden Luftfahrtunternehmens aufgrund einer arbeits- und tarifrechtlich nicht legitimierten Arbeitsniederlegung („wilder Streik“) stellt einen „außergewöhnlichen Umstand“ gemäß Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dar. Die in Art. 5 Abs. 3 enthaltene Befreiung gilt jedoch nur für außergewöhnliche Umstände, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn das betreffende Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hätte. Darüber sowie über die Frage, wie hoch die Abwesenheitsquote sein muss, damit im Kontext eines wilden Streiks von einem außergewöhnlichen Umstand auszugehen ist, hat das vorlegende Gericht zu entscheiden.

3. Der außergewöhnliche Umstand muss zum Zeitpunkt der Annullierung oder Verspätung des Fluges vorgelegen haben.

4. Für die Vermeidbarkeit kommt es nur auf die Folgen des Eintritts des außergewöhnlichen Umstands an.

Quelle: Pressemitteilung des EuGH Nr. 49/2018 v. 17.04.2018 und