Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gem. Art. 267 AEUV folgende Frage zur Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Parlaments und des Rates vom 11.2.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. EU Nr. L 46, 1 ff.) vorgelegt:
1. Ist ein Ausgleichsanspruch wegen Verspätung des Fluges von mindestens drei Stunden nach Art. 5, 6 und 7 der Verordnung generell ausgeschlossen, wenn der Fluggast bei drohender großer Verspätung einen von ihm selbst gebuchten Ersatzflug nutzt und dadurch das Endziel mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden erreicht, oder kommt ein Ausgleichsanspruch in dieser Konstellation jedenfalls dann in Betracht, wenn schon vor dem Zeitpunkt, in dem sich der Fluggast spätestens zur Abfertigung einfinden muss, hinreichend gesicherte Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass es am Endziel zu einer Verspätung von mindestens drei Stunden kommen wird?
2. Für den Fall, dass Frage 1 im zuletzt genannten Sinne zu beantworten ist: Setzt der Ausgleichsanspruch wegen Verspätung des Fluges von mindestens drei Stunden nach Art. 5, 6 und 7 der Verordnung in der genannten Konstellation voraus, dass sich der Fluggast nach Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung rechtzeitig zur Abfertigung einfindet?BGH Beschl. v. 10.1.2023 – X ZR 106/21
Vorinstanzen:
LG Düsseldorf – 22 S 350/20
AG Düsseldorf – 234 C 29/20
Sachverhalt:
Der Kläger nimmt die Beklagte zu 1 auf Ausgleichszahlung nach der FluggastrechteVO in Anspruch. Der Kläger buchte bei der Beklagten zu 2 einen Flug von Düsseldorf nach Palma de Mallorca und zurück. Die Beklagte zu 1 war ausführendes Flugunternehmen. Der Abflug des Hinfluges verspätete sich um sechs Stunden. Einen früheren Ersatzflug boten die Beklagten dem Kläger nicht an. Wegen eines Termins am Zielort buchte der Kläger eigenständig einen Ersatzflug und erreichte Palma mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden. Die Zahlungsklage gegen die Beklagte zu 1 hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Revisionsgericht beschließt, gem. Art. 267 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 3 AEUVeine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen.
Aus den Gründen:
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union steht einem Fluggast der in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c i.V.m. Art. 7 Abs. 1 FluggastrechteVOvorgesehene Ausgleichsanspruch zu, wenn er bei der Ankunft an seinem Endziel einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleidet (vgl. nur EuGH, Urt. v. 19.11.2009 – C-402/07 und C-432/07, NJW 2010, 43 = RRa 2009, 282 Rz. 61, 69 – Sturgeon; … EuGH, Beschl. v. 12.11.2020 – C-367/20, RRa 2021, 125 Rz. 27 – KLM).9
Von diesem Ansatzpunkt aus spricht viel dafür, dass eine Ausgleichszahlung nicht geschuldet ist, wenn der Fluggast bei drohender großer Verspätung einen von ihm selbst gebuchten Ersatzflug nutzt und dadurch das Endziel mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden erreicht.16
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gehört es … zu den gebotenen Maßnahmen eines Luftfahrtunternehmens im Fall einer Verspätung oder Annullierung, dem Fluggast eine mögliche anderweitige direkte oder indirekte Beförderung mit einem Flug anzubieten, den das betroffene oder ein anderes Luftfahrtunternehmen durchführt und der mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens ankommt, es sei denn, die Durchführung einer solchen anderweitigen Beförderung stellt für das betreffende Unternehmen angesichts seiner Kapazitäten zum maßgeblichen Zeitpunkt ein nicht tragbares Opfer dar (EuGH, Urt. v. 11.6.2020 – C-74/19, NJW-RR 2020, 871 = RRa 2020, 185Rz. 61 – LE/TAP; BGH, Urt. v. 6.4.2021 – X ZR 11/20, MDR 2021, 860 = NJW-RR 2021, 926 = RRa 2021, 188 Rz. 41).17
Die Verletzung dieser Pflicht begründet für sich gesehen aber keinen Ausgleichsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 FluggastrechteVO. Sie dient zwar dem Zweck, eine Annullierung oder Verspätung nach Möglichkeit zu vermeiden. Ein Ausgleichsanspruch besteht nach der Verordnung aber nur im Falle eines Zeitverlusts von mindestens drei Stunden.22
Im Falle einer Annullierung besteht gem. Art. 5 Abs. 1 Buchst. c FluggastrechteVOein Anspruch auf Ausgleichszahlung schon dann, wenn dem Fluggast keine anderweitige Beförderung mit einem Zeitverlust von weniger als drei Stunden angeboten wird.23
Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist grundsätzlich unerheblich, ob der Fluggast die geplante Reise tatsächlich antritt und wann er am Endziel ankommt. Der Fluggast ist in dieser Konstellation auch nicht gehalten, sich rechtzeitig zur Abfertigung einzufinden. Wenn feststeht, dass der Flug annulliert ist, wäre ein solches Ansinnen ohnehin sinnlos.24
Wie der Senat bereits in anderem Zusammenhang dargelegt hat (BGH, Beschl. v. 3.5.2022 – X ZR 122/21, Rz. 16), könnte ein dem vergleichbarer Sachverhalt vorliegen, wenn vor dem Zeitpunkt, zu dem sich der Fluggast spätestens zur Abfertigung einfinden muss, bereits hinreichend gesicherte Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Flug nur noch mit einer Verspätung am Endziel von mehr als drei Stunden durchgeführt werden kann. In dieser Situation könnte das Ansinnen, sich dennoch rechtzeitig zur Abfertigung einzufinden, ebenso wie bei einer Annullierung sinnlos sein.MDR 2023, 34825
Daraus könnte zu folgern sein, dass ein Anspruch auf Ausgleichszahlung in dieser Konstellation ebenso wie im Falle einer Annullierung nicht davon abhängt, ob der Fluggast die geplante Reise angetreten hat und wann er am Endziel angekommen ist. [Rz. 26–29]