1. Art. 17 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das am 28.5.1999 in Montreal geschlossen, am 9.12.1999 von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet und durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5.4.2001 in ihrem Namen genehmigt wurde (MÜ), ist dahin auszulegen, dass eine Situation, in der ein Fluggast aus unbestimmtem Grund auf einer für den Ausstieg der Fluggäste eines Luftfahrzeugs bereitgestellten mobilen Treppe stürzt und verletzt wird, unter den Begriff „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, und zwar auch dann, wenn das betreffende Luftfahrtunternehmen hierbei nicht gegen seine Sorgfalts- und Verkehrssicherungspflichten verstoßen hat.

2. Art. 20 S. 1 des MÜ ist dahin auszulegen, dass ein Luftfahrtunternehmen bei einem Unfall, der einem Fluggast einen Schaden verursacht hat und bei dem Letzterer aus unbestimmtem Grund auf einer für den Ausstieg der Fluggäste eines Luftfahrzeugs bereitgestellten Treppe gestürzt ist, nur insoweit von seiner Haftung gegenüber diesem Fluggast befreit werden kann, als dieses Luftfahrtunternehmen in Anbetracht sämtlicher Umstände, unter denen dieser Schaden eingetreten ist, gemäß den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften und vorbehaltlich der Wahrung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität nachweist, dass im Sinne dieser Bestimmung eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung dieses Fluggasts, sei es auch nur fahrlässig, den diesem entstandenen Schaden verursacht oder dazu beigetragen hat.

EuGH, Urteil vom 2.6.2022C-589/20 (JR/Austrian Airlines-AG), NJW-RR 2022, 986 = BeckRS 20022, 12112

Airline muss Beitrag des Geschädigten zum Schaden nachweisen

Der EuGH hat in einem Rechtsstreit zwischen JR und der Austrian Airlines AG über eine von JR erhobene Klage auf Schadensersatz wegen Körperverletzungen, die durch ihren Sturz während des Aussteigens nach einem von diesem Luftfahrtunternehmen durchgeführten Flug verursacht wurden, über die Auslegung des anzuwendenden Montrealer Übereinkommens entscheiden. Der EuGH stellt klar, unter welchen Voraussetzungen ein Schadensersatzanspruch in Betracht kommt.

Der EuGH hält zunächst fest, dass ein Sturz beim Flugzeugausstieg wie im Ausgangsfall ein Unfall im Sinn von Art. 17 Abs. 1 des Montrealer Übereinkommens ist. Dies gelte auch dann, wenn die Airline nicht gegen Verkehrssicherungspflichten verstoßen hat.

Für eine (Teil-)Haftungsbefreiung müsse die Airline nachweisen, dass der Fluggast zu dem Schaden durch sein Verhalten beigetragen habe. Es sei Sache des nationalen Gerichts festzustellen, ob die Airline diesen Nachweis erbracht habe. Dass sich die Frau nicht an einem der Handläufe der Treppe festgehalten habe, könne zu dem Schaden beigetragen haben, unterstreicht der EuGH. Es dürfe aber nicht außer Acht gelassen werden, dass die Frau mit einem minderjährigen Kind gereist sei, für dessen Sicherheit sie habe sorgen müssen. Für die Bewertung des Falls sei auch relevant, so der EuGH weiter, dass die Frau sich nach dem Unfall nicht direkt habe behandeln lassen, was die Verletzung womöglich verschlimmert habe. In diesem Zusammenhang sei allerdings auch zu berücksichtigen, wie schwer die Verletzungen unmittelbar nach dem Unfall zu sein schienen und welche Informationen der Fluggast vom medizinischen Personal vor Ort erhalten habe.

Amtliches Urteil EuGH, 2.6.2022 – C-589/20