Ich möchte Ihnen diesen Artikel aus dem Tagesspiegel Background empfehlen:

Wenn 110 Millionen nicht reichen 110 Millionen Euro als Haftungsobergrenze könnten zu wenig sein, um Thomas-Cook-Kunden zu entschädigen. Ein höherer Deckel wurde schon häufig gefordert, aber nie umgesetzt. Möglicherweise muss die Bundesregierung haften, weil sie eine EU-Richtlinie nicht richtig umgesetzt hat.

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Ein ähnlicher Fall geht zurück bis ins Jahr 1996: Damals verdonnerte derEuropäische Gerichtshof (EuGH) die Bundesregierung dazu, mehrere Tausend Kunden des Reiseveranstalters MP Travel Line finanziell zu entschädigen. Die Begründung: Deutschland habe die europäische Pauschalreiserichtlinie nicht rechtzeitig umgesetzt. Geklagt hatten zuvor fünf Bürger vor dem Bonner Landgericht. Sie hatten Pauschalreisen gebucht, die sie entweder nicht antreten konnten oder auf eigene Kosten vom Urlaubsort nach Hause zurückkehren mussten, weil die beiden Reiseveranstalter in der Zwischenzeit Insolvenz angemeldet hatten.

Gut möglich, dass sich ein solches Urteil bei der Thomas-Cook-Insolvenz wiederholt: Der Versicherer Zurich hat bereits angekündigt, dass der Höchstbetrag von 110 Millionen Euro pro Geschäftsjahr durch die gesetzliche Insolvenzversicherung nicht ausreichen könnte, um alle Ansprüche zu befriedigen. Der Erstattungsbetrag für die Geschädigten würde dann anteilig gekürzt. Dann könnte es erneut Klagen geben, weil die Novelle der EU-Richtlinie womöglich nicht richtig umgesetzt wurde. Sie fordert einen wirksamen Insolvenzschutz, der einen ausreichend hohen Prozentsatz des Veranstalterumsatzes aufweisen muss. Dennoch lässt die Bundesregierung weiterhin eine Haftungsbegrenzung auf maximal 110 Millionen Euro für alle Reiseveranstalter eines Absicherers zu.

Und offenbar stehen nicht mal mehr 110 Millionen zur Verfügung: Denn für die Schäden durch die Insolvenz des Thomas-Cook-Kooperationspartners Troll Tours im Dezember 2018 haftet Zurich ebenfalls und ist angeblich immer noch in der Abwicklung. Weil das Geschäftsjahr des Versicherers vom 1. November bis 31. Oktober läuft, fällt die Insolvenz in den gleichen Zyklus wie die von Thomas Cook und seinen Marken. Nach Informationen von Marija Linnhoff, der Geschäftsführerin des Verbands unabhängiger selbstständiger Reisebüros, stehen Thomas-Cook-Geschädigten deshalb nur noch 95 Millionen Euro zur Verfügung, wie sie Tagesspiegel Background sagte.

Tour Vital ebenfalls insolvent

Gestern hatte zudem auch die niederländische Thomas Cook sowie das Unternehmen Tour Vital Insolvenz angemeldet. Der Reiseanbieter gehörte bis vor rund einem Jahr noch zu Cook und ist ebenfalls über Zurich abgesichert. Als Grund nannte Tour Vital die „derzeitigen Rahmenbedingungen im Reisemarkt“. Damit steigt die Zahl der Kunden mit Entschädigungsforderungen weiter. Zu allem Überfluss könnten Kunden länger als in solchen Fällen üblich auf ihre Entschädigung warten: Laut Linnhoff wird vor März 2020 kein Geld fließen. Normalerweise liegt die Abwicklungszeit zwischen sechs und acht Wochen.

Unklar ist auch, ob für Reisen, die nach Oktober angetreten werden sollten und die damit ins neue Geschäftsjahr von Zurich fallen, erneut 110 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Reiserechtsexperte Ernst Führich bezweifelt das in seinem Blog: „Der Höchstbetrag des neuen Geschäftsjahres ist für Insolvenzen dieses neuen Jahres reserviert’“, schreibt er. 

Linnhoff macht der Regierung schwere Vorwürfe: Sie selbst, Verbraucherschützer und führende Reiserechtsexperten hätten schon während der Umsetzung der Richtlinie im Jahr 2017 davor gewarnt, dass 110 Millionen Euro nicht ausreichen. DieGrünen hatten einen Antrag ins Parlament eingebracht, in dem sie eine Erhöhung der Haftungssumme bei Veranstalterinsolvenzen auf 300 Millionen Euro forderten. Er wurde mit den Stimmen von Union, SPD und AfD abgelehnt. 

Veranstaltermarkt hat sich gewandelt

Auch Führich kritisiert die 110-Millionen-Deckelung: „Diese starre Grenze erscheint im Lichte eines Großschadens bei mehreren gleichzeitigen Insolvenzen eines Großveranstalters mit mehreren Töchtern als Reiseveranstalter, die alle bei einem einzigen Absicherer versichert sind, nicht mehr richtlinienkonform“, schreibt er.

Der Jurist verweist darauf, dass sich die Struktur des deutschen Veranstaltermarktes hin zu einem Oligopol von den drei Großveranstaltern TUI, Rewe und Thomas Cook verändert habe, die mehr als 45 Prozent des Jahresumsatzes erwirtschaften. Da auch die Zahl der Absicherer in Deutschland mit einer Handvoll Anbietern in den letzten Jahren stark geschrumpft sei, gebe es unter ihnen keinen wirtschaftlichen Wettbewerb.

Linnhoff fordert, dass der Staat einspringen muss, sollte das Geld nicht ausreichen. „Es gab genug Hinweise, jetzt muss die Regierung die Konsequenzen tragen.“ Der Bund müsse zudem freiwillig haften, ohne dass er zuvor verklagt wird. „Ansonsten ist mit der Pauschalreise ein ganzes Geschäftsmodell beschädigt.“

Dänemark als Vorbild

Beim Bundesjustizministerium hieß es auf Anfrage von Background, man gehe davon aus, die Richtlinie ausreichend umgesetzt zu haben. So erlaube das Regelwerk eine Haftungsbegrenzung, „wenn sonst unverhältnismäßige Auswirkungen auf die Kosten des Schutzes und somit seiner Wirksamkeit drohten“, sagte ein Sprecher. Die Anzahl der Versicherungsunternehmen, die überhaupt eine Kundengeldabsicherung anbieten, habe über die letzten Jahre kontinuierlich abgenommen.

Ein Systemwechsel hin zu einem gänzlich anderen System der Insolvenzsicherung sei jedoch „innerhalb der kurzen Umsetzungsfrist der Richtlinie nicht realisierbar“ gewesen. Außerdem habe seit 1994 der höchste durch die Insolvenz eines Reiseveranstalters eingetretene Versicherungsschaden rund 30 Millionen Euro betragen. Bis dahin hätten alle betroffenen Reisenden vollständig entschädigt werden können. 

Die Bundesregierung hat bereits vor der Insolvenz von Thomas Cook begonnen, nach neuen Möglichkeiten für eine funktionierende privatwirtschaftliche Insolvenzabsicherung zu suchen – genauer gesagt: parallel zur Umsetzung der Richtlinie, vor zwei Jahren. Nun ist das Vorhaben von den Ereignissen überholt worden. „Wir wollen die Bemühungen jetzt noch mal beschleunigen“, so der Sprecher.

Reiserechtsexperte Führich rät der Bundesregierung, das System hin zu einemGarantiefonds zu reformieren, wie er in anderen EU-Staaten bereits existiert. InDänemark wird dazu ein Fonds mit einem Beitrag von 20 Kronen pro verkaufter Pauschalreise gespeist, aus dem im Schadensfall Erstattungen beglichen werden.