Anmerkung Markus Lieberknecht in LMK 2018, 40812

VO (EG) Nr. 44/2001 Art. 5 Nr. 1 Buchst. a u. b, 60 I; VO (EG) Nr. 1215/2012 Art. 4 III, 7 Nr. 1

  1. Art. 5 Nr. 1 Buchstabe b zweiter Gedankenstrich der Verordnung EG Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass er auf einen Beklagten mit (Wohn-)Sitz in einem Drittstaat wie die Beklagte des Ausgangsverfahrens keine Anwendung findet.
  2. Art. 5 Nr. 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 44/2001 ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Ansprüche aus einem Vertrag“ im Sinne dieser Bestimmung auch eine von Fluggästen auf der Grundlage der VO (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.2.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der VO (EWG) Nr. 295/91 erhobene Klage auf Ausgleichszahlung wegen einer großen Verspätung bei einer aus mehreren Teilstrecken bestehenden Flugreise umfasst, die sich gegen ein ausführendes Luftfahrtunternehmen richtet, das nicht Vertragspartner des betroffenen Fluggasts ist.
  3. Art. 5 Nr. 1 Buchstabe b zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 44/2001 und Art. 7 Nr. 1 Buchstabe b zweiter Gedankenstrich der VO (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen sind dahin auszulegen, dass bei einer aus zwei Teilstrecken bestehenden Flugreise „Erfüllungsort“ im Sinne dieser Bestimmungen der Ankunftsort der zweiten Teilstrecke ist, wenn die Beförderungen auf den beiden Teilstrecken von verschiedenen Luftfahrtunternehmen durchgeführt werden und die Klage gemäß der Verordnung Nr. 261/2004 auf Ausgleichszahlung wegen einer großen Verspätung bei dieser aus zwei Teilstrecken bestehenden Flugreise auf eine Störung gestützt wird, die auf dem ersten Flug eingetreten ist, der von dem Luftfahrtunternehmen durchgeführt wurde, das nicht Vertragspartner der betreffenden Fluggäste ist.

EuGH, Urteil vom 07.03.2018 – C-274-16, C-447/16, C-448/16, EuZW 2018, 465 – „flightright GmbH ua/Air Nostrum, Liereras del Mediterraneo SA ua “

Anmerkung von Ass. iur. Markus Lieberknecht

1. Problembeschreibung

Eine Flugbuchung beinhaltet regelmäßig mehrere Teilstrecken, mit deren Durchführung der Vertragspartner des Fluggasts häufig Drittanbieter betraut. Als ausführendes Luftfahrtunternehmen gem. Art. 2 Buchst. b Fluggastrechte-VOkann ein solcher Drittanbieter Schuldner von Ausgleichsansprüchen sein, im (typischen) Fall von Code-Sharing ist er sogar der alleinige Schuldner (vgl. BGH, NJW 2018, 1249). Für die internationale Zuständigkeit wirft dies die Frage auf, ob es sich bei Ausgleichsansprüchen gegen einen Drittanbieter noch um „Ansprüche aus einem Vertrag“ iSv Art. 7 Nr. 1 Buchst. a EuGVVO(bzw. Art. 5 Nr. 1 Buchst. a EuGVVO aF) handelt. Ebenfalls diskussionswürdig ist die Frage, auf welche Strecke(n) bei der Bestimmung des Erfüllungsortes gem. Art. 7 Nr. 1 Buchst. b EuGVVO (bzw. Art. 5 Nr. 1 Buchst. b EuGVVO aF) abzustellen ist; die betroffene Teilstrecke, die Gesamtstrecke oder gar beide.

Ausgangspunkt waren jeweils einheitliche Buchungen von Spanien nach Deutschland bei der Fluggesellschaft Iberia, die einen Zubringerflug innerhalb Spaniens beinhalteten. Auf diesen von Air Nostrum im Auftrag von Iberia durchgeführten Teilstrecken kam es zu Verspätungen, sodass die Betroffenen mit Verzögerung in Deutschland eintrafen. Die Fluggäste bzw. die Dienstleisterin flightright als Zessionarin machten an den Gerichten der Zielorte in Deutschland Ausgleichsansprüche gegen Air Nostrum geltend.

Die im Tenor zu 1 beantwortete Vorlagefrage wird hier nicht näher behandelt, weil sich die Antwort aus Art. 5, 4 I EuGVVO aF ergibt. Von einer Ausdehnung auf Bekl. aus Drittstaaten wurde, entgegen dem Kommissionsvorschlag (KOM [2010] 748 endgültig, S. 26), auch bei Art. 7 EuGVVO abgesehen, sodass eine planwidrige Lücke in der aktuellen Regelung erst recht ausscheidet.

2. Rechtliche Wertung

Der EuGH stellt zunächst unter Hinweis die Rs. Kareda (EuGH, ECLI:EU:C:2017:472 = NJW 2018, 845) fest, dass „Ansprüche aus einem Vertrag“ iSv Art. 7 Nr. 1 Buchst. a EuGVVO(bzw. Art. 5 Nr. 1 Buchst. a EuGVVO aF) nicht zwingend die Identität der Prozessparteien mit den Vertragsparteien voraussetzen. Die dortigen Prozessparteien waren Gesamtschuldner eines Darlehens und prozessierten um den resultierenden Innenausgleich. Mangels Beteiligung der Darlehensgeberin am Prozess bestand keine vollständige Kongruenz zwischen Vertrags- und Prozessparteien. Letztere waren aber eben beide auch Parteien des Darlehensvertrags, der zugleich die Gesamtschuld begründete.

Darin liegt ein gewichtiger Unterschied zur vorliegenden Konstellation. Der beklagte Drittanbieter ist nämlich keine Partei des Beförderungsvertrags und dieser begründet auch per se noch keine Haftung des Dritten. Entscheidend ist also, inwieweit „Ansprüche aus einem Vertrag“ auch Ansprüche gegen Personen sein können, die nicht Vertragspartei (oder Rechtsnachfolger einer solchen) sind. Hierfür bedarf es einer stichhaltigen Begründung, sofern man keinen Gerichtsstand des Sachzusammenhangs schaffen will. Sachgerecht erscheint eine Anwendung dann, wenn der Dritte kraft Gesetzes für Ansprüche haftet, die in einem fremden Vertrag wurzeln (vgl. MüKoZPO/Gottwald, 5. Aufl. 2017, Art. 7 EuGVVO Rn. 11) und sich diese Haftung auf den Konsens des Dritten zurückführen lässt (vgl. EuGH, ECLI:EU:C:2004:77 = NJW-RR 2004, 129 – Frahuil).

Dem EuGH dient Art. 3 V 2 Fluggastrechte-VOals argumentativer Ausgangspunkt. Die Vorschrift ermöglicht eine Zurechnung von Erklärungen oder Handlungen des Drittanbieters zum Vertragspartner und ähnelt damit funktional den §§ 164, 278 BGB (vgl. Steinrötter in Gsell/Krüger/Lorenz ua, Beck-OK Fluggastrechte-VO, Stand 15.6.2018, Art. 3 Rn. 130). Ebenso wenig wie die genannten Normen regelt sie den hier eigentlich interessierenden Umstand, dass der Dritte für die Leistungsstörung in einem fremden Vertrag einzustehen hat. Dafür ist eine Überleitung in genau umgekehrter Richtung erforderlich, nämlich vom Vertragspartner zum Drittanbieter. Art. 3 V 2 Fluggastrechte-VO erscheint deshalb nicht als tragfähiges Argument.

Gleichwohl sprechen hier gute Gründe für eine Gerichtspflichtigkeit am Erfüllungsort. Jedenfalls soweit sie sich gegen Drittanbieter richten, handelt es sich bei Ausgleichsansprüchen nach der Fluggastrechte-VO um gesetzliche Ansprüche, welche an die Schlechterfüllung des Beförderungsvertrags anknüpfen. Mit anderen Worten: Die Fluggastrechte-VO bestimmt eine gesetzliche Haftung Dritter für die Leistungsstörung in einem fremden Vertrag. Weil der Drittanbieter sich diesem Mechanismus freiwillig aussetzt, indem er durch Rahmenvertrag die Beförderung übernimmt, wird die gesetzliche Haftung auch von seinem Konsens getragen. Dem EuGH ist damit, wenn auch nicht vollumfänglich in der Begründung, im Ergebnis zuzustimmen.

Sodann stellt sich die Frage, wo der Erfüllungsort iSv Art. 7 Nr. 1 Buchst. b EuGVVO (bzw. Art. 5 Nr. 1 Buchst. b EuGVVO aF) zu verorten ist. Ausgangspunkt ist die Rechtsprechung des EuGH, der zufolge dem klagenden Fluggast ein Wahlrecht zwischen dem am Abflug- und Ankunftsort zusteht (EuGH, ECLI:EU:C:2009:439= NJW 2009, 2801 – Rehder) und als Ankunftsort das Ziel der letzten Anschlussverbindung anzusehen ist (EuGH, ECLI:EU:C:2013:106 = NJW 2013, 1291 – Folkerts). Diese Grundsätze überträgt der EuGH konsequent auf die vorliegende Konstellation und sieht folglich das Ziel der Gesamtstrecke als Erfüllungsort an. Die Wahlmöglichkeit wird weder um den Umsteigeort erweitert noch auf die Teilstrecke reduziert. Daran ändert richtigerweise auch der Umstand nichts, dass die betroffene Teilstrecke den finalen Zielort gar nicht beinhaltete. Anknüpfungspunkt der materiellrechtlichen Haftung und folglich auch des Art. 7 Nr. 1 EuGVVO ist nämlich der Beförderungsvertrag insgesamt und nicht die betroffene Teilstrecke.

Diese beiden für sich überzeugenden Lösungen bewirken in ihrer Kombination eine beträchtliche Belastung des Drittanbieters. Dieses Ergebnis lässt sich durch das Bedürfnis nach Kohärenz rechtfertigen, es erscheint aber auch wertungsmäßig überzeugend. Ein einleuchtendes Bedürfnis, dem Fluggast einen Gerichtsort am Zielort zu eröffnen, folgt erstens daraus, dass der Drittanbieter im Regelfall der einzige Schuldner des Ausgleichsanspruchs ist und deshalb am Zielort nicht ohnehin eine alternative Klagemöglichkeit gegen den Vertragspartner besteht und zweitens daraus, dass der Umsteigeort ein besonders zufallsabhängiges und potenziell impraktikables Forum darstellt.

3. Praktische Folgen

Die etablierten Gerichtsstände für Ausgleichsansprüche nach der Fluggastrechte-VO bestehen in identischer Form für Klagen gegen Drittanbieter, die lediglich Teilstrecken ausführen. An der komfortablen Ausgangsposition des klagenden Fluggasts ändert sich also nichts. Externe Anbieter von Zubringerstrecken müssen sich hingegen darauf einstellen, auch außerhalb der von ihnen angeflogenen Jurisdiktionen verklagt zu werden.

Darüber hinaus unterstreicht das Urteil, dass Art. 7 Nr. 1 Buchst. a EuGVVO unter gewissen Umständen auch Ansprüche gegen Dritte erfassen kann, die nicht Partei des maßgeblichen Vertrags sind. Der vom EuGH gewählte Begründungsansatz suggeriert dabei eine nicht unbedenkliche Offenheit des Erfüllungsortsgerichtsstands für gesetzliche Ansprüche gegen vertragsfremde Dritte und ließe sich womöglich auf die deliktische Inanspruchnahme von Erfüllungsgehilfen oder Stellvertretern übertragen.

 

Markus Lieberknecht ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für ausländisches und Internationales Privat- und Wirtschaftsrecht (Lehrstuhl Prof. Dr. Marc-Philippe Weller), Universität Heidelberg.