1. Begleiterscheinungen, die in der seit dem Frühjahr 2020 das Weltgeschehen mitbeherrschenden Corona-Pandemie ihren Grund haben, können so lange keine erst nach Vertragsschluss erkennbar gewordenen unvermeidbaren außergewöhnlichen Umstände im Sinne von § 651hAbs. 3 Satz 1 BGB gesehen werden, so lange mit der Corona-Pandemie konkrete beeinträchtigende Gefahren für die sichere Durchführung der jeweils vereinbarten Reise noch zu erwarten sind. (Rn. 17)

2. Unter den Vorzeichen der Corona-Pandemie hat die Klägerin erkennen können, dass sich die pandemische Sicherheitslage zu jeder Zeit an jedem Ort binnen kurzer Frist verbessern und verschlechtern konnte. So gesehen, hat in der Buchung einer Reise zu fernem Ort mit einem Vorlauf von mehr als zwei Monaten ein gewagtes Unterfangen gelegen, auf dessen Risiken sich die Klägerin zumindest unbewusst fahrlässig eingelassen hat. Das mit einem solchen Wagnis-Geschäft verbundene wirtschaftliche Risiko hat allein die Klägerin als Reisende zu tragen. (Rn. 19) (Amtliche Leitsätze)

AG Singen Urt. v. 17.6.2022 – 1 C 33/22, BeckRS 2022, 13944

1. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 200,30 Euro zu bezahlen nebst Zinsen für das Jahr in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 1. Februar 2022. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Jede Partei kann die Vollstreckung der je anderen Partei durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die je andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand: 

1Die Klägerin begehrt von der Beklagten nach Rücktritt von einem PauschalreisevertragRückerstattung des Reisepreises in Höhe restlicher 3.805,70 Euro.

2Am 18. Oktober 2021 schloss die Klägerin mit der Beklagten einen Vertrag über eine Pauschalreise nach Madeira (Portugal) für die Zeit vom 29. Dezember 2021 bis zum 6. Januar 2022 zum Preis von 4.006,00 Euro. An der Reise sollten die an Diabetes 1 erkrankte Klägerin und deren Partner teilnehmen. Kurz vor Buchung der Reise waren die Einstufung von Portugal als Hochrisikogebiet durch das RKI aufgehoben und sämtliche hoheitlich angeordneten Covid-Beschränkungen am Reiseort vor Ort zurückgenommen worden. Nachtclubs und Bars waren nach Maßgabe einer 2G-Regelung wieder geöffnet worden.

3Am 23. Dezember 2021 sprach das Auswärtige Amt für Portugal eine Reisewarnung aus. Das Reiseland wurde nun wieder als Hochrisikogebiet qualifiziert. Zugleich wurde für Reiserückkehrer eine zehntätige Quarantäne vorgeschrieben. Daraufhin erklärte die Klägerin am 24. Dezember 2021 gegenüber der Beklagten, die Reise zu stornieren.

4Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Beklagten sehen für den Fall des Rücktritts Folgendes vor: „5.1 Tritt der Reisende vor Reisebeginn von der Reise zurück […], verliert der Reiseveranstalter den Anspruch auf den Reisepreis. Die Parteien vereinbaren hierfür folgende Stornopauschalen: Bei Rücktritt bis 30 Tage vor Reiseantritt werden dem Reisenden 40% des Reisepreises berechnet. Ab dem 29. bis 15. Tag vor Reiseantritt 70%, ab dem 14. Tag vor Reiseantritt 90% und am Tag des Reiseantritts 95% des Reisepreises. Der Reisende ist berechtigt, die Entstehung eines geringeren Schadens nachzuweisen. […]“

5Die Beklagte erstattete der Klägerin 5% des Reisepreises, das sind 200,30 Euro. Den restlichen Differenzbetrag von 3.805,70 Euro verlangt die Klägerin ebenfalls erstattet.

6Die Klägerin macht geltend, die Beklagte könne keine angemessene Entschädigung verlangen. Denn im Unterschied zum Buchungszeitpunkt, in dem pandemiebedingte Beeinträchtigungen nicht mehr im Vordergrund gestanden hätten, habe sich im Rücktrittszeitpunkt durch das Auftreten der Omikron-Variante des Corona-Virus eine wesentlich andere Lage ergeben. Der vorerkrankten Klägerin und ihrem Partner sei unter diesen Umständen nicht mehr zuzumuten gewesen, die Reise anzutreten.

7Die Klägerin beantragt,

  • 1.die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag i.H.v. 3.805,70 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 1.2.2022 zu zahlen;
  • 2.die Beklagte weiterhin zu verurteilen, die Klägerin von außergerichtlichen Kosten ihres Prozessbevollmächtigten aus dem Aufforderungsschreiben an die Beklagte vom 19.1.2022 i.H.v. 453,87 Euro gemäß der Kostennote vom 9.2.2022 gegenüber ihrem Prozessbevollmächtigten freizustellen.

8Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

9Sie macht geltend, es handle sich nicht um einen Fall des § 651h Abs. 3 BGB. Entscheidend sei, ob die Pandemie im Zeitpunkt der Buchung vorhersehbar gewesen sei. Das sei zu bejahen, da es die pandemische Lage seit dem 11. März 2020 gegeben habe und die Klägerin die Reise in der Pandemiesituation gebucht habe. Die Klägerin habe nicht voraussetzen können, dass die Pandemie zum Zeitpunkt der Reise beendet sein werde. Das Auftreten neuer Varianten des Corona-Virus schaffe nicht jedesmal aufs Neue einen unvermeidbaren außergewöhnlichen Umstand.

10Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 2. Juni 2022 verwiesen.

Gründe:

I.

11Die Klage ist zulässig. Sie hat jedoch in der Sache im Wesentlichen keinen Erfolg.

II.

12Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten lediglich Anspruch auf Zahlung von 200,30 Euro (vgl. §§ 812 Abs. 1 Satz 1, 651h Abs. 1Satz 2 BGB).

13Die Klägerin ist von dem Reisevertrag zurückgetreten. Zu einem solchen Rücktritt ist sie ohne weiteres berechtigt gewesen (vgl. § 651h Abs. 1 Satz 1 BGB).

14Hierdurch hat die Beklagte zwar den Anspruch auf den vereinbarten Reisepreis verloren (§ 651h Abs. 1 Satz 2 BGB). Doch hat die Beklagte ihrerseits das Recht gehabt, den klägerischen Erstattungsanspruch durch Verrechnung oder Aufrechnung mit einem eigenen Entschädigungsanspruch nach § 651hAbs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 1 BGB ganz überwiegend zu Fall zu bringen.

15Dieser Anspruch beträgt 3.605,40 Euro, so dass unter Abzug bereits vorgerichtlich gezahlter 200,30 Euro lediglich der Differenzbetrag von 200,30 Euro zur Rückzahlung offensteht.

16Die in den vorformulierten Vertragsbedingungen der Klägerin festgelegte Entschädigungspauschale von 90% des Reisepreises für den hier gegebenen Fall, dass der Reisende 14 Tage bis einen Tag vor Reisebeginn zurücktritt, ist nicht zu beanstanden (vgl. MK/Tonner, BGB, 8. Aufl. 2020, § 651h Rn. 17 m.w.N.).

17Dieser Entschädigungsanspruch ist nicht ausgeschlossen. Denn am Bestimmungsort der Reise waren keine im Sinne von § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB unvermeidbaren außergewöhnlichen Umstände aufgetreten, die die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigten und die für die Klägerin als Reisende erst nach Vertragsschluss erkennbar geworden wären (zu letzterer Voraussetzung vgl. Grüneberg/Retzlaff, BGB, 81. Aufl. 2022, § 651h Rn. 10; MK/Tonner, BGB, 8. Aufl. 2020, § 651h Rn. 37). ange mit der Corona-Pandemie konkrete beeinträchtigende Gefahren für die sichere Durchführung der jeweils vereinbarten Reise noch zu erwarten sind (im Ergebnis ebenso Führich, Reisebuchungen und Corona-Pandemie – noch unvermeidbare außergewöhnliche Umstä…, NJW 2022, 1641 Rn. 26; Löw, Pauschalreiserecht in Zeiten der Covid-19-Pandemie, NJW 2020, 1252, 1253 unter II 4).

18Insoweit ist unter dem Gesichtspunkt der Nichterkennbarkeit oder Unvorhersehbarkeit Folgendes entscheidend: Seit Beginn dieser Epidemie hat es sog. Wellen (Ansteigen und Absinken der Erkranktenzahlen) und Mutationen des Krankheitserregers ebenso gegeben wie regelmäßig wiederholte Warnungen vor weiteren Wellen und vor weiteren Mutationen, gerade auch für die kalte Jahreszeit. Die Berichte und Dokumentationen über die sog. Corona-Lage sowie die schier ausufernden Diskussionen über die zukünftige pandemische Entwicklung, den Zeitpunkt der nächsten Wellen sowie Herkunft und Gefährlichkeit nicht bloß etwa theoretisch möglicher, sondern unvermeidlich in die Welt tretender neuer Virusvarianten haben jedenfalls bis zum Februar 2022 die Medien thematisch beherrscht. Angesichts dessen hat die Klägerin damit zu rechnen gehabt, dass es jederzeit eine neue Ansteckungswelle in Portugal wie in Deutschland geben könne, insbesondere infolge der Ausbreitung einer neuen eher ansteckenden Virusvariante.

19Von der Beklagten unwidersprochen, behauptet die Klägerin, die Ansteckungsgefahr im geplanten Urlaubsgebiet sei, als die Klägerin vom Reisevertrag zurückgetreten sei, weitaus höher als an ihrem Wohnort gewesen, an dem zum Zeitpunkt der Reise eine äußerst geringe Inzidenz zu verzeichnen gewesen sei, weshalb am Urlaubsort eine realistisch höhere Wahrscheinlichkeit bestanden habe, eine schwere Erkrankung zu erleiden, als am Wohnort der Klägerin. Auch habe die Gefahr bestanden, mit der damals noch unbekannten Mutation des Virus mit der Bezeichnung Omikron infiziert zu werden, wogegen noch kein sicheres Medikament bzw. keine sichere Impfung zur Verfügung gestanden habe. Zudem sei veröffentlicht worden, dass die Mutation trotz Impfung ein erhöhtes Ansteckungsrisiko mit sich führe. Auf all dies kommt es nicht an. Maßgeblich ist allein: Unter den Vorzeichen der Corona-Pandemie hat die Klägerin erkennen können, dass sich die pandemische Sicherheitslage zu jeder Zeit an jedem Ort binnen kurzer Frist verbessern und verschlechtern konnte. So gesehen, hat in der Buchung einer Reise zu fernem Ort mit einem Vorlauf von mehr als zwei Monaten ein gewagtes Unterfangen gelegen, auf dessen Risiken sich die Klägerin zumindest unbewusst fahrlässig eingelassen hat. Das mit einem solchen Wagnis-Geschäft verbundene wirtschaftliche Risiko hat allein die Klägerin als Reisende zu tragen.

20Der Anspruch auf die Verzugszinsen ergibt sich aus §§ 280 Abs. 2286 Abs. 1 Satz 1, 288 Abs. 1 BGB.

21Die ihr entstandenen Rechtsverfolgungskosten kann die Klägerin auch nicht zu einem Bruchteil verlangen, hat sich doch die Beklagte im Zeitpunkt, als die Klägerin ihren anwaltlichen Vertreter beauftragt hat, nicht in Zahlungsverzug befunden. Insbesondere hatte in der Übersendung der Stornierungsrechnung keine ernsthafte endgültige Erfüllungsverweigerung gelegen, die eine Mahnung entbehrlich gemacht hätte (vgl. § 286Abs. 2 Nr. 3 BGB).

III.

22Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Anmerkung: Ebenso Führich, Reisebuchungen und Corona-Pandemie – noch unvermeidbare außergewöhnliche Umstände? NJW 2022, 1641. Nach der über zwei Jahre andauernden Corona-Pandemie mit inzwischen vier Wellen geht mein Beitrag der Frage nach, ob der Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände weiterhin für Pauschalreiseverträge der Jahre 2021 und 2022 erfüllt ist oder man bereits von gewöhnlichen, aber nicht außergewöhnlichen Umständen bei künftigen Stornierungen ausgehen muss. Ist an die Pandemie als Gesundheitsrisiko für das Vorliegen des außergewöhnlichen Umstands anzuknüpfen oder an die wechselnden behördlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionsgefahr?