Art. 8 I Buchst. b und c VO (EG) Nr. 261/2004 (Fluggastrechte-VO) gewährt dem Fluggast bei Annullierung eines Fluges aufgrund der Corona-Pandemie kein beliebiges, kostenfreies Umbuchungsrecht, das außerhalb jeden Zusammenhangs mit der ursprünglichen Reiseplanung steht.
OLG Köln, Urt. v. 26.2.2021 – 6 U 127/20, NJW 2021, 1248)
Sachverhalt
Der Ast., ein in die Liste nach § 4 UKlaG eingetragener Verein, nimmt die Ag., ein Luftfahrtunternehmen, nach Abmahnung auf Unterlassung in Anspruch.
Die Ag. hat wegen der Corona-Pandemie zwei für Ostern 2020 beziehungsweise März 2020 gebuchte Flüge annulliert. Auf die Wünsche der Fluggäste I und B nach einer Umbuchung auf Dezember 2020 oder März 2021 beziehungsweise auf Juli 2020 hatte sie zunächst in Telefonaten am 31.3.2020 und am 5.4.2020 die Zahlung eines Aufpreises verlangt. Der Ast. sieht darin einen Verstoß gegen die VO (EG) Nr. 261/2004 (Fluggastrechte-VO).
Das LG Köln hat am 8.5.2020 ohne Anhörung der Ag. antragsgemäß eine Beschlussverfügung erlassen. Die Berufung der Ag. hatte Erfolg.Aus Gründen der Entscheidung
… Nach Art. 5 I Buchst. a, Art. 8 I Buchst. c Fluggastrechte-VO kann bei Annullierung eines Fluges der Fluggast vom ausführenden Luftfahrtunternehmen eine anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt (als dem frühestmöglichen, s. Art. 8 I Buchst. b Fluggastrechte-VO) nach seinem Wunsch verlangen, vorbehaltlich verfügbarer Plätze.
Die Auslegung der Norm ergibt, dass die Umbuchung zwar entgegen der Ansicht der Ag. kostenlos zu erbringen ist, aber in einem auch zeitlichen Zusammenhang mit der ursprünglichen Reise stehen muss. Der Senat tritt insoweit der Argumentation der Ag. bei.
13 aa) Art. 8 I Buchst. c Fluggastrechte-VO sieht nach Ansicht des Senats eindeutig eine kostenfreie Umbuchung vor (s. auch BeckOK/Degott, Fluggastrechte-VO, 17. Ed. 1.1.2021, Art. 8 Rn. 13 c). Dies ergibt sich ansatzweise bereits aus dem Wortlaut der Norm, die eine anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes lediglich unter den Vorbehalt verfügbarer Plätze stellt und nicht auch unter den Vorbehalt der Wirtschaftlichkeit.
Außerdem werden die Ansprüche aus Art. 8 in Art. 5 Fluggastrechte-VO als „Unterstützungsleistungen“ bezeichnet. In jedem Fall folgt die Unentgeltlichkeit der Umbuchung aber aus Sinn und Zweck des Art. 8 FluggastrechteVO, der für den Fall der Nichtdurchführung eines geplanten Fluges einen Wahlanspruch auf Erstattung oder auf eine anderweitige Beförderung vorsieht. Ein Anspruch auf anderweitige Beförderung gegen Zahlung eines Aufpreises – entsprechend dem Preis für eine neue Buchung – wäre weder mit dem Anspruch auf Erstattung/Rückabwicklung nach Art. 8 I Buchst. a Fluggastrechte-VO (s. u. cc) gleichwertig, noch läge darin eine „Unterstützungsleistung“. Unabhängig von dem nach dem deutschen Recht geltenden Kontrahierungszwang ist kaum ein Fall denkbar, in dem die Fluggesellschaft eine Neubuchung ablehnen wird. Dass Art. 8 I Buchst. c Fluggastrechte-VO – anders als Art. 9 I und II Fluggastrechte-VO – nicht ausführt, die anderweitige Beförderung zum Endziel erfolge „unentgeltlich“, bestätigt die Ansicht der Ag. nicht. Eine solche Formulierung wäre unrichtig, da die Beförderung tatsächlich nicht unentgeltlich erfolgt, sondern zum vereinbarten Preis. Die Betreuungsleistungen nach Art. 9 sind in dem vereinbarten Preis dagegen nicht enthalten. Auch aus Art. 8 III kann die Ast. für ihre Ansicht nichts herleiten.
14bb) Die Annullierung der Flüge erfolgte aufgrund der Corona-Pandemie und geht damit auf außergewöhnliche Umstände zurück. Diese schließen gem. Art. 5 III Fluggastrechte-VO lediglich Ausgleichszahlungen nach Art. 7 Fluggastrechte-VO aus, nicht jedoch den Anspruch nach Art. 8 Fluggastrechte-VO auf Erstattung oder anderweitige Beförderung (s. BeckOK/Degott, Fluggastrechte-VO, 17. Ed. 1.1.2021, Art. 8 Rn. 10). Bei unvorhersehbarer höherer Gewalt werden damit zwar die Interessen des Luftfahrtunternehmens weniger berücksichtigt als die der Fluggäste, eine Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung liegt dennoch nicht vor (s. Staudinger/Keiler, BGB, Fluggastrechte-VO, 1. Aufl., 2016, Art. 8 Rn. 51 mwN zur Rechtsprechung des EuGH).
15cc) Problematisch ist die Frage, ob Art. 8 I c FluggastrechteVO einen auch zeitlichen Zusammenhang mit der ursprünglichen Reiseplanung erfordert. Diese grundsätzliche Frage ist bislang nicht höchstrichterlich geklärt.
16 Der Wortlaut der Norm ist hierzu nicht eindeutig. Er lässt sowohl die umfassend begründete Auslegung des LG zu, als auch die der Ag. Die Formulierung in Art. 8 I Buchst. b Fluggastrechte-VO „anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ stellt einen eindeutigen zeitlichen Bezug zum ursprünglichen Reiseplan des Fluggastes her. Für Art. 8 I Buchst. c Fluggastrechte-VO „anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze“ ist eine entsprechende Auslegung naheliegend – der Fluggast entscheidet sich in beiden Fällen, die Reise fortzusetzen statt abzubrechen und eine Erstattung nach Art. 8 I Buchst. a Fluggastrechte-VO zu wählen – aber nicht zwingend. Die Regelung in Art. 8 I Buchst. c Fluggastrechte-VO ist unter der Prämisse eines zeitlichen Zusammenhangs mit der ursprünglichen Reise auch nicht inhaltsleer. Sie eröffnet dem Reisenden vielmehr interessengerecht eine gewisse zeitliche Flexibilität, wenn ihm die Beförderung zum frühestmöglichen Zeitpunkt nicht gelegen kommt, zum Beispiel weil der Termin mitten in der Nacht liegt oder mit einem anderen Termin des Fluggastes (Telefonkonferenz oÄ) kollidiert.
17 Sinn und Zweck der Norm sprechen für die Ansicht der Ag., ebenso die Gesamtsystematik der Verordnung. Es erscheint dem Senat relativ eindeutig, dass die Fluggastrechte-VO in ihrem Regelungsgeflecht auf den Schutz der Fluggäste nur während der jeweiligen Reise abzielt. Die von einer Annullierung betroffenen Fluggäste sollen von den Auswirkungen des Ausbleibens der Beförderungsleistung geschützt werden. Für einen weitergehenden Schutz besteht keine Veranlassung und auch kein berechtigtes Interesse (zu den absehbaren Folgen der Rechtsansicht des LG s. zB den bei BILD veröffentlichten „Spar-Trick“ der Umbuchung auf eine Hochpreis-Phase, um trotz Corona profitieren zu können).
18Nach den Erwägungsgründe 1 und 2 zur FluggastrechteVO wird das Bedürfnis für ein hohes Schutzniveau insbesondere für gegen ihren Willen nicht beförderte Fluggäste und Annullierung sowie große Verspätungen gesehen, ein grundsätzliches Schutzbedürfnis nach den Erwägungsgründe 5 und 6 auch für Pauschalreisen. Freiwillig Nichtbeförderte sollen nicht schlechter stehen als unfreiwillig Nichtbeförderte, Erwägungsgrund 11. Nichtbeförderung und Verspätung stehen in einem natürlichen Zusammenhang mit der ursprünglichen Reiseplanung. Insoweit liegt es nahe, die durch die Verordnung festgelegten Mindestrechte nicht nur für die Fälle der Nichtbeförderung und Verspätung, sondern auch für den Fall der Annullierung vor dem Hintergrund der ursprünglichen Reiseplanung zu sehen. Bei Pauschalreisenden, denen sämtliche Wahlmöglichkeiten des Art. 8 I offenstehen, einschließlich der anderweitigen Beförderung zum Endziel zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes (s. Staudinger/Keiler, Art. 8 Rn. 37; BeckOK/Degott, FluggastrechteVO, Art. 8 Rn. 14), ist ein auch zeitlicher Zusammenhang mit der geplanten Reise unverkennbar.
19 Gegen ihren Willen nicht beförderte Personen und freiwillig nicht beförderte Personen werden ebenso auf Art. 8 Fluggastrechte-VO verwiesen wie Gäste, deren Flüge annulliert wurden, s. die Erwägungsgründe 9, 10, 11 sowie Art. 4 I und III Fluggastrechte-VO. In Zusammenhang mit einer freiwilligen Nichtbeförderung wäre es kaum vertretbar, dem Fluggast ein „Umbuchungsrecht“ auf eine beliebige andere Reisezeit/eine völlig andere Reise zuzubilligen. Dem entsprechend kann die Verspätung eines Fluges auch nur zu einem Anspruch auf Erstattung nach Art. 8 I Buchst. a Fluggastrechte-VO führen sowie mittels der Unterstützungsleistungen nach Art. 9 Fluggastrechte-VO zu einer Fortsetzung des Fluges unter zufriedenstellenden Bedingungen, nicht aber zu einem Anspruch auf anderweitige Beförderung Erwägungsgrund 17 und Art. 6 I i, iii Fluggastrechte-VO.
20Die Regelungen zur Annullierung sollen gemäß Erwägungsgrund 12 dazu dienen, das Ärgernis und die Unannehmlichkeiten der Fluggäste zu verringern. Dies erfordert nicht, dem Fluggast ein beliebiges kostenfreies Umbuchungsrecht einzuräumen, das außerhalb jeglichen Zusammenhangs mit der geplanten Reise steht, zum Beispiel auf einen Flug erst nach der ursprünglich geplanten Reise, zu einer besonders teuren Reisezeit. Auch die Mittel, mit denen das Ärgernis und die Unannehmlichkeiten vermindert werden sollen, stehen in Zusammenhang mit der ursprünglichen Reiseplanung: Der Fluggast soll vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet werden und ihm soll eine zumutbare anderweitige Beförderung angeboten werden, so dass er umdisponieren kann, Erwägungsgrund 12 und Art. 5 II, I Buchst. c Fluggastrechte-VO. Dabei stehen die Angebote zur anderweitigen Beförderung gem. Art. 5 I Buchst. c Fluggastrechte-VO in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit den planmäßigen Abflugs- und Ankunftszeiten. Andernfalls sollen den Fluggästen ein Ausgleich und eine angemessene Betreuung angeboten werden, Erwägungsgrund 12. Sie sollen entweder eine Erstattung des Flugpreises oder eine anderweitige Beförderung unter zufriedenstellenden Bedingungen erhalten können, und sie sollen angemessen betreut werden, „während sie auf einen späteren Flug warten“, Erwägungsgrund 13 und Art. 8 I, Art. 9 Fluggastrechte-VO. Zwar erlischt nach den vom LG zitierten nicht bindenden Auslegungsleitlinien der Kommission der Betreuungsanspruch, wenn sich der Fluggast für die Erstattung der Flugscheinkosten oder eine anderweitige Beförderung zu einem späteren Zeitpunkt entscheidet, gleichwohl wird in Erwägungsgrund 13 die Vorstellung des Verordnungsgebers deutlich, dass die Fluggäste innerhalb einer Wartezeit und damit eines relativ kurzen Zeitraums anderweitig an den vorgesehenen Zielort gebracht werden.
21Nach Art. 7 II Fluggastrechte-VO kann der Ausgleichsanspruch gekürzt werden, wenn dem Fluggast gem. Art. 8 Fluggastrechte-VO eine anderweitige Beförderung zum Endziel mit einem Alternativflug angeboten wird, dessen Ankunftszeit nicht unter bestimmten Zeiträumen nach der planmäßigen Ankunftszeit des ursprünglich gebuchten Fluges liegt. Der zeitliche Zusammenhang mit der ursprünglichen Reise ist auch hier unverkennbar.
22 Entscheidend ist nach Ansicht des Senats schließlich, dass es sich bei Art. 8 I Fluggastrechte-VO sinngemäß um eine Art Gewährleistungsansprüche für den Fall der Nichterfüllung des Vertrags handelt, auch wenn der Senat nicht verkennt, dass zwischen dem Fluggast und dem nach Art. 5, 8 Fluggastrechte-VO verpflichteten ausführenden Luftfahrtunternehmen keineswegs ein Vertragsverhältnis bestehen muss und das deutsche Rechtssystem auch keine Blaupause für die Auslegung der FluggastrechteVO bildet. Art. 8 I Buchst. a Fluggastrechte-VO begründet gleichwohl im Ergebnis ex nunc einen Anspruch auf Rückabwicklung des Vertrags, soweit dieser noch nicht erfüllt ist bzw. seinen Zweck verfehlt hat (s. BeckOK/Degott, Fluggastrechte-VO; Art. 8 Rn. 4; Staudinger/Keiler, § 8 Rn. 8 ff.). Bei Art. 8 I b und c Fluggastrechte-VO handelt es sich dem entsprechend um einen Anspruch auf Nacherfüllung, der naturgemäß inhaltlich an den Luftbeförderungsvertrag gebunden ist. Ein solcher Anspruch steht grundsätzlich in Zusammenhang mit der ursprünglich geplanten Reise. Ob der insoweit erforderliche Zusammenhang gewahrt ist, richtet sich nach den Umständen der geplanten Reise, wobei der Beförderungsanspruch nach deutschem Recht regelmäßig als relatives Fixgeschäft zu qualifizieren ist (s. Staudinger/Keiler, Art. 8 Rn. 15). Bei Nichteinhaltung der Leistungszeit tritt keine Unmöglichkeit ein, die Flugbeförderungsleistung kann nachgeholt werden, der Gläubiger ist aber berechtigt vom Vertrag zurückzutreten. Die Einhaltung der Leistungszeit ist gleichwohl so wesentlich, dass mit der zeitgerechten Leistung das Geschäft stehen und fallen soll. Wann eine verspätete Leistung (Ankunft) für den Fluggast keinen Sinn mehr ergibt und keine Erfüllung mehr darstellt, also unmöglich wird, richtet sich nach dem ursprünglichen Reiseplan des Fluggastes. So wird man zB bei einem Nur-Hinflug zum Zweck der Auswanderung einen anderen zeitlichen Maßstab zugrunde zu legen haben als bei einem Wochenendtrip mit einem auf Freitag gebuchten Hinflug und einem auf Sonntag gebuchten Rückflug.
23Aus den nicht verbindlichen Auslegungsleitlinien der Kommission zur Fluggastrechte-VO (ABl. 2016 C 214 , 5) und deren Ergänzung auch im Zusammenhang mit Covid-19 (ABl. 2020 CI 89, 1) kann für die hier streitentscheidende Frage nichts hergeleitet werden. Die Kommission ist nicht der eindeutigen Ansicht, der Anspruch aus Art. 8 I c Fluggastrechte-VO könne auch noch Jahre später, für eine völlig andere Reise, geltend gemacht werden.
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