Das Oberlandesgericht Naumburg hat ein Urteil im Zusammenhang mit Corona-Stornierungen bei einem Kinder- und Jugendreiseveranstalter gefällt. Rechtsanwältin Anja Smettan-Öztürk erklärt im Interview mit fvw|TravelTalk, warum das Urteil alle Reiseveranstalter interessieren sollte.In dem konkreten Fall (Aktenzeichen 4 U 72/22 | Vorinstanz LG Halle 3 O 159/21) trat ein Reiseveranstalter von Schul- und Klassenfahrten gegen das Bundesland Sachsen-Anhalt auf. Das Urteil des OLG Naumburg stammt vom 2. März 2023.

Die Entscheidung bestätigt meine Rechtsauffassung, dass der Reiseveranstalter zwischen seiner vertraglichen Stornopauschale und einer konkreten Berechnung seiner Entschädigung wählen kann (Führich/Staudinger, Reiserecht-Handbuch, § 16 Rn 16).


fvw|TravelTalk: Welche Rolle haben Sie im Rahmen dieser Urteilsfindung gespielt?
Anja Smettan-Öztürk: Ich betreue als Rechtsanwältin seit vielen Jahren unter anderem eine Vielzahl von Reiseanbietern im Bereich des Kinder- und Jugendtourismus. Diese Branche war durch die Corona-Pandemie besonders hart getroffen, da die Schulministerien Klassen-, Kita- und Schulfahrten flächendeckend und langfristig untersagt haben. Ich habe den Rechtsstreit vor dem Landgericht Halle (Aktenzeichen 3 O 159/21), sowie dann vor dem Oberlandesgericht Naumburg als Prozessbevollmächtigte für eine Anbieterin von Schul- und Klassenfahrten geführt.

Worum geht es beim Urteil des OLG Naumburg?
Dem Rechtsstreit lagen drei Absagen von Schulfahrten für den Zeitraum (5. bis 10. Juli 2020 nach Budapest; 6. bis 10. Juli Ostseeküste) zugrunde. Die Klägerin betätigt sich als Reiseveranstalter von Schul- und Klassenfahrten. Die Beklagte ist das Bundesland Sachsen-Anhalt, deren Schulen die Verträge im Namen des Landes abschließen. Die Angebote der Klägerin beinhalteten An- und Abreise, Unterkunft und Programm, so dass das klassische Pauschalreiserecht (§§ 651 a ff BGB) zur Anwendung kommt.

Den Verträgen wurden die Reisebedingungen des Veranstalters zugrunde gelegt. Die Klägerin hat sich in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen vorbehalten, die Berechnung von Stornierungskosten sowohl pauschal als auch konkret vornehmen zu dürfen. Aufgrund eines Ministererlasses, wonach alle vom 24. April 2020 bis zum 31. Juli 2020 stattfindenden Klassenfahrten abzusagen waren, stornierten die Mitarbeiter der Schulen im April die bei der Klägerin gebuchten Reisen.

Die Klägerin bestätigte die Stornierung und begehrte von der Beklagten die Zahlung von Stornokosten-Entschädigungen, wobei sie ihren Ausfallschaden jeweils gemäß ihrer AGB konkret berechnet und nachgewiesen hat. Der Veranstalter hat der Abrechnung den Reisepreis zugrunde gelegt, wovon dann die Gutschriften der Leistungsträger abgezogen wurden. Die Beklagte regulierte schließlich diese Rechnungen, jedoch auf der Basis der vereinbarten Stornierungskostenpauschale. Daraufhin hat der Reiseveranstalter auf Zahlung der Differenzbeträge geklagt.

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Welchen Standpunkt vertrat das Land?
Die Beklagte erkannte zwar grundsätzlich die Pflicht an, Stornokosten begleichen zu müssen, vertrat jedoch den Standpunkt, dass ein Wahlrecht des Reiseveranstalters zwischen pauschalisierter Entschädigung und konkreter Abrechnung nicht möglich sei, da dies § 651 h BGB nicht zuließe. Vielmehr habe der Gesetzgeber vorgesehen, dass der Entschädigungsanspruch des Reiseveranstalters durch eine angemessene Pauschale geregelt werden solle – nur, wenn eine solche Regelung nicht getroffen wurde, solle eine konkrete Abrechnung der Kosten möglich sein. Diese Auffassung teilte die Vorinstanz (Landgericht Halle, 17. Mai 2022 – 3 O 159/21) und wies die Klage ab.

Was passierte danach?
Der Reiseveranstalter ging in die Berufung vor dem Oberlandesgericht Naumburg. Das OLG hat die Entscheidung der Vorinstanz nun mit Urteil vom 2. März 2023 abgeändert und der Klägerin den Anspruch (teilweise) zugesprochen. Insbesondere hält das OLG die Klausel der Klägerin, welche sich ein Wahlrecht zwischen pauschaler und konkreter Berechnung in ihren AGB vorbehalten hatte, für wirksam. Weder die Pauschalreise-Richtlinie noch § 651 h BGB würden es dem Reiseveranstalter verbieten, die Wahl zwischen konkreter und pauschaler Berechnung der Entschädigung vorzunehmen, urteilte das OLG. Es gebe auch keine Deckelung des Entschädigungsanspruchs auf die Höhe einer vereinbarten Pauschale.

Das OLG hat weiterhin bestätigt, dass bei der Berechnung der konkreten Entschädigung der ursprüngliche Reisepreis angesetzt werden könne. Davon müssten ersparte Aufwendungen, sowie das, was durch eine anderweitige Verwendung der Reiseleistung erzielt wird, vom Reisepreis abgezogen werden.


Stärkt das Urteil die Position der Reiseveranstalter?
Auf jeden Fall. Es herrscht eine gewisse Unsicherheit in der Branche, ob nach dem Inkrafttreten des neuen Reiserechts im Juli 2018 ein solches Wahlrecht in den AGB mit den Vorgaben der Pauschalreise-Richtlinie vereinbar ist. Insofern macht das Urteil den Reiseveranstaltern sicherlich Mut.

Dass die Entscheidung hier bezüglich eines Spezialreiseveranstalters für Schul- und Klassenfahrten ergangen ist, kann dahin gestellt bleiben. Das Urteil findet Anwendung für alle Reiseveranstalter.

Hat der Reiseveranstalter grundsätzlich konkrete Ersatzansprüche bei Rücktritt des Reisenden vor Reisebeginn?
Ja, nach dieser Entscheidung des OLG, die rechtskräftig ist, hat der Reiseveranstalter die Möglichkeit seine Entschädigungsansprüche konkret zu berechnen, wenn entweder die vereinbarte Pauschale unwirksam ist, beziehungsweise wenn sich der Veranstalter – wie hier – eine konkrete Berechnung in den AGB vorbehalten hat. Er kann dann denn vereinbarten Reisepreis ansetzen, hiervon muss er ersparte Aufwendungen abziehen beziehungsweise was durch anderweitige Verwendung der Reiseleistung erzielt werden konnte. Das bedeutet, dass auch die Gemeinkosten und sogar der Gewinn des Reiseveranstalters in die Entschädigung einfließen.

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Kann das Urteil des OLG Naumburg bei weiteren Prozessen ohne weiteres herangezogen werden?
Auf jeden Fall kann und sollte bei weiteren Prozessen zum genannten Thema auf dieses Urteil Bezug genommen werden. Eine Verpflichtung anderer Gerichte, dieser Entscheidung zu folgen, kann daraus aber nicht abgeleitet werden. Eine höchstrichterliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs oder des Europäischen Gerichtshofs liegt bisher noch nicht vor. Es bleibt abzuwarten, wie sich andere Gerichte zu dieser Frage positionieren werden.

Wie würden Sie das Urteil des OLG in einem Satz zusammenfassen?
Ein Ministererlass vom April 2020, der aufgrund der Corona-Pandemie die Anweisung an Schulen beinhaltet, bis zum Jahresende keine Schulfahrten mehr durchzuführen, berechtigt nicht zum entschädigungslosen Rücktritt einer bereits gebuchten Klassenfahrt ohne konkrete Prüfung der Verhältnisse am Zielort.

Quelle FVW

Über Anja Smettan-Öztürk

Anja Smettan-Öztürk ist eine Berliner Anwältin für Reiseverkehrsrecht (Reise- und Tourismusrecht, Airline- und Vertragsrecht). Sie ist zudem Ausbilderin von Rechtsreferendaren für das Kammergericht Berlin und Lehrbeauftragte an der Hochschule Harz.

Anmerkung von RAin Smettan-Öztürk bei beck online

Praxishinweis

9Das Berufungsurteil des OLG Naumburg bestätigt, dass die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstandes nach § 651 h Abs. 3 BGB bei demjenigen liegt, der sich hierauf beruft. Hier muss in der Praxis im Rechtsstreit zur Art der Unterbringung, den vorgesehenen Aktivitäten und den möglichen Maßnahmen, wie etwa Covid-19-Tests vor Reiseantritt und zur Frage, weshalb die Reise nur mit erheblichem Gesundheitsrisiko für die Teilnehmer möglich wäre, konkret vorgetragen werden. Das Gericht bestätigt unter Verweis auf das Urteil des BGH (Urt. v. 30.8.2022, Az. X ZR 66/21, ReiseRFD 2022, 7), dass Reisewarnungen trotz deren Befristungen ein stärkeres Gewicht beigemessen werden kann, weist aber auch daraufhin, dass, wenn mehrere Wochen zwischen Ende der Befristungen liegen und dem Beginn der geplanten Reise genug Zeit bleibt, um die weitere Entwicklung abzuwarten. Im Ergebnis war der Rücktritt voreilig.

10Ganz entscheidend sind die Ausführungen des OLG Naumburg zu dem in den Reisebedingungen vereinbarten Wahlrecht zwischen konkreter und pauschaler Berechnung. Das OLG Naumburg stellt klar, dass die Möglichkeit der Pauschalierung in erster Linie der Erleichterung der Abwicklung von nicht durchgeführten Reiseverträgen diene. Dies solle aber den Reiseveranstalter nicht hindern, eine konkrete Berechnung vorzunehmen, wenn er sich ein solches Wahlrecht in seinen Reisebedingungen vorbehalten hat. Maßstab sind dann die tatsächlich entstandenen Nachteile, die gemäß § 651 h Abs. 2 S. 2 zu ermitteln sind. Eine Verbraucherbenachteiligung sieht das OLG Naumburg ausdrücklich nicht darin, dass dieser die Höhe der zu zahlenden Entschädigung nicht abschätzen kann. Mit Verweis auf § 651 h Abs. 2 S. 2 BGB sei der Verbraucher nicht schlechter gestellt, als wenn eine Pauschale gar nicht erst vereinbart worden wäre. Außerdem bestätigt das OLG Naumburg, dass dem Reiseveranstalter auch bei Unwirksamkeit einer in den AGB festgelegten Entschädigungspauschale der Rückgriff auf die Methode der konkreten Berechnung eröffnet bleibt (siehe Führich/Staudinger, ReiseR-HdB/Staudinger, § 16 Rn. 16). 

11Ein wenig überraschend an der Entscheidung des OLG Naumburg ist, dass das Gericht bei der Prüfung der Entschädigungsberechnung die gegenüber der klagenden Reiseveranstalterin von dem Busunternehmer angesetzte Pauschale von 70 % des vereinbarten Preises für die Transportleistung in Frage gestellt hat. Das Gericht fordert, dass die Angemessenheit der Pauschalen der Leistungsträger durch den Reiseveranstalter zu hinterfragen ist und ggf. nicht zu akzeptieren ist. Der Praktiker sollte also nach dieser Entscheidung im Fall der Stornierung einer Reise, die Abrechnung der Leistungsträger des Reiseveranstalters überprüfen und ggf. hinterfragen. Die Stornierungskosten müssen auch hier angemessen sein, um sie dann mit der konkreten Schadensberechnung dem Reisenden gegenüber in Ansatz zu bringen. Im Grundsatz wird jedoch bestätigt, dass die Art der Berechnung, welche vom vereinbarten Reisepreis ersparte Aufwendungen abzieht, formal den Anforderungen des § 651 h Abs. 2 BGB entspricht. Dies verdeutlicht, dass auch die Gemeinkosten und sogar der Gewinn des Reiseveranstalters in die Entschädigung einfließen, soweit dieser nicht durch anderweitige Verwendung der Reiseleistung ersetzt wird.

Entscheidungen: ReiseRFD 2023, 54 ◊ BeckRS 2023, 4805