AG Hannover, Urt. vom 20.01.2021 – 552 C 7861/20, BeckRS 2021, 4114
1. Bei der Bemessung der Minderungshöhe des Tagesreisepreises sind bei einer Flugpauschalreise die Gesamtreisekosten einschließlich der Beförderungskosten in Ansatz zu bringen. Denn der Reisende bringt Flugkosten auf, um in einem entfernten Land Reiseleistungen entgegenzunehmen. Sind diese mangelhaft, so sind die Flugkosten umso höhere verlorene Investitionen, je höher sie gewesen sind. Der Nutzen der Reise ist insoweit insgesamt eingeschränkt.
2. Waren aufgrund der Corona-Pandemie bei einem Pauschalreisevertrag entgegen der vertraglichen Vereinbarung, die noch vor Pandemiebeginn geschlossen wurde, nicht alle Restaurants im gebuchten Hotel geöffnet und war das Speisenangebot eingeschränkt, so realisierte sich hier ein weltweites allgemeines Lebensrisiko, bei dem nicht auf Vorerfahrungen zurückgegriffen werden konnte und die Pandemiesituation für alle Beteiligten neu und überfordernd war. Ein Minderungsanspruch des Reisenden wird dadurch – unabhängig der ansonsten verschuldensunabhängigen Einstandspflicht des Reiseveranstalters für das Gelingen des vereinbarten Leistungsprogrammes – nicht begründet. Dies gilt zumindest dann, wenn der Reiseveranstalter um die Aufrechterhaltung seines Betriebsablaufes bemüht war.
Aus den Entscheidungsgründen:
Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Minderung des Reisepreises gemäß § 651 m Abs. 1 BGB für 6 Tage, da der Rückflug aufgrund der Corona-Pandemie bereits am 21.03.2020 erfolgen musste und daher die restlichen 6 Übernachtungen nicht mehr am Urlaubsort verbracht werden konnten. Für diese Tage ist die Beklagte zur Zahlung des vollen Tagesreisepreises verpflichtet. Dabei berechnet sich der Tagesreisepreis anhand des Gesamtreisepreises. Entgegen der Ansicht der Beklagten werden die Transportkosten gerade nicht herausgerechnet. Dass dadurch die Beförderungskosten betroffen sind, selbst wenn diese Leistung mangelfrei erbracht wurde, ist ohne Belang. Denn der Reisende bringt die Flugkosten auf, um im entfernten Land jene anderen Leistungen entgegenzunehmen. Sind diese mangelhaft, so sind die Flugkosten umso höhere verlorene Investitionen, je höher sie gewesen sind; der Nutzen der Reise ist insoweit insgesamt eingeschränkt (Tonner in MüKo BGB, 8. Aufl. 2020, § 651 m, Rn. 9 m.w.N.; vgl. auch Führich, Reiserechte, 7. Aufl., § 8 Rn. 22). Der Tagesreisepreis errechnet sich daher vorliegend wie folgt:
„Gesamtreisepreis 4.392 € : 12 Nächte : 2 Personen = 183 € Tagesreisepreis
Daraus folgt ein Minderungsanspruch in Höhe von 2.196 € für 6 Nächte für 2 Personen. Da die Beklagte vorgerichtlich bereits 1.305 € gezahlt hat, ist dieser Betrag in Abzug zu bringen. Mithin ergibt sich ein Restanspruch in Höhe von 891 €. Der Zinsanspruch folgt aus §§ 286 Abs. 1, 288 BGB. Verzug trat aufgrund der Mahnung der Klägerin vom 24.03.2020 am 08.04.2020 ein.“
Soweit die Klägerin darüberhinausgehend einen Minderungsanspruch für nicht geöffnete Restaurants gemäß § 651 m BGB geltend macht, besteht ein solcher nicht, da die Reise nicht mängelbehaftet im Sinne des Reiserechts gewesen ist.
Grundsätzlich trägt der Veranstalter eine umfassende verschuldensunabhängige Einstandspflicht für das Gelingen des vereinbarten Leistungsprogramms. Es kommt also weder auf ein Verschulden des Veranstalters noch darauf an, ob der Mangel aus seiner Sphäre stammt. Ebenso spielt es keine Rolle, ob ein Reisemangel durch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände verursacht wurde. Das reisevertragliche Mängelgewährleistungssystem greift also bei allen möglichen Störungen Platz und hat einen dementsprechend weiten Anwendungsbereich. Nach dem sogenannten weiten Mangelbegriff liegt es im Risikobereich des Veranstalters, ob er in der Lage ist, die Leistung zu erbringen und er trägt die Gefahr des Nichtgelingens. Es spielt keine Rolle, worauf der Mangel letztendlich zurückzuführen ist. Dies gilt jedenfalls insoweit, als die Störungen Leistungen betreffen, die vom geschuldeten Leistungsprogramm umfasst sind.
Dies kann unterdessen nicht bedeuten, dass der Veranstalter für jede erdenkliche Beanstandung mit dem gesamten Katalog an Gewährleistungsrechten haften musst. Vielmehr enthalten die Tatbestandsvoraussetzungen der einzelnen Mängelrechte selbst Einschränkungen, zum Beispiel § 651 n Abs. 1 BGB. Soweit eine Verletzung ausschließlich auf die Verwirklichung des allgemeinen Lebensrisikos zurückzuführen ist, findet deshalb das reisevertragliche Gewährleistungsrecht keine Anwendung. Der Veranstalter hat vielmehr nur für den reisespezifischen Gefahrenbereich seiner Unternehmenssphäre zu haften. Bei Störungen, welche nicht aus diesem Bereich stammen, fehlt es am Zurechnungszusammenhang zum Verhalten des Veranstalters. (vgl. Führich, Reiserecht, 8. Auflage, § 17, Rdnr. 13)
Bei der Corona-Pandemie und deren Auswirkungen handelt es sich nicht um eine reisespezifische Gefahr, sondern tatsächlich um ein allgemeines – weltweites – Lebensrisiko. Es handelt sich um ein weltweites Geschehen, ohne dass auf Vorerfahrungen zurückgegriffen werden konnte. Insbesondere muss berücksichtigt werden, dass sich die Klägerin ganz zu Beginn der Pandemie am Urlaubsort aufhielt, so dass die Pandemiesituation für alle Beteiligten neu und überfordernd war. Da diverse Restaurants dennoch geöffnet hatten und die Beklagte daher um die Aufrechterhaltung des Betriebsablaufs bemüht war, müssen Einschränkungen wie die Schließung von Spezialitätenrestaurants und geringere Buffetauswahl als allgemeines Lebensrisiko hingenommen werden.
Anmerkung: Grundsätzlich spielt es keine Rolle, ob ein Reisemangel durch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände wie der Corona-Pandemie verursacht wird. Daher muss der Veranstalter in der Regel für Einschränkungen seines Leistungsprogramms mit einer Preisminderung haften. So verneinte der BGH zum früheren Recht der §§ 651c. ff. BGB aF die Verwirklichung des allgemeinesn Lebensrisikos bei einem durch einen Geisterfahrer verursachten Verkehrsunfall beim Transfer vom Flughafen zum Hotel (BGH, 6.12.2016, X ZR 117/17, NJW 2017, 958, Anm. Führich LMK 2017, 390643). Ob diese frühere Grenze der Einstandspflicht des Veranstalters durch das allgemeine Lebensrisiko für die seit über einem Jahr grassierende weltweite Corona-Pandemie auch für das neue Pauschalreiserecht anzunehmen ist, hat das AG Hannover zwar bejaht. Das letzte Wort hat aber der für die Auslegung der vollharmonisierten Pauschalreiserichtlinie zuständige EuGH, der für eine einheitliche Rechtsanwendung in der EU sorgen sollte. Letztlich sind die Instanzgerichte aufgerufen, diese Rechtsfrage im Wege der Vorentscheidung gemäß Art. 267 AEUV dem EuGH vorzulegen.
Prof. Dr. Ernst Führich
https://www.reisevor9.de/inside/corona-einschraenkung-schafft-keinen-entschaedigungsanspruch