VO (EG) Nr. 261/2004 Art. 7 I, 5 I Buchst. c, 3 II Buchst. b

1. Ist ein Fluggast wegen einer Verspätung auf einen Alternativflug umgebucht worden und wird dieser Alternativflug sodann annulliert, hat der Fluggast wegen der Annullierung einen Anspruch auf Ausgleichzahlung nach Art. 7 I iVm Art. 5 I Buchst. c VO (EG) Nr. 261/2004.

2. Dies gilt auch wenn, das ausführende Luftfahrtunternehmen des annullierten Fluges ein anderes Luftfahrtunternehmen ist als dasjenige, das den verspäteten Flug ausführte und die Umbuchung als Ersatzbeförderung gem. Art. 8 I VO (EG) Nr. 261/2004 vornahm.

3. Das Urteil des EuGH vom 12.3.2020 (NJW 2020, 1127) ist über den dort konkret entschiedenen Fall generalisierbar und folglich auch anwendbar, wenn ein ursprünglich gebuchter erster Teilflug einer mehrteiligen Flugreise verspätet ist und zum Verpassen eines Folgefluges führt und im Nachgang der Alternativflug annulliert wird.

AG Köln, Urteil vom 22.6.2020 – 112 C 621/19, NJW-RR 2020, 1314

Zum Sachverhalt

Die Parteien streiten um Ausgleichsansprüche nach der VO (EG) Nr. 261/2004 (im Weiteren Fluggastrechte-VO). Die Kl. ist ein Unternehmen, das sich auf dem Gebiet der Fluggastrechte spezialisiert hat und nach entsprechender Abtretung durch Passagiere Ansprüche auf Grundlage der Fluggastreche-VO gegen die Luftfahrtunternehmen durchsetzt. Die Bekl. ist ein deutsches Luftfahrtunternehmen mit Sitz in Köln. Am 1.8.2018 verfügte der Fluggast E über eine bestätigte Buchung für eine Flugreise von Split (Kroatien) über Frankfurt a. M. nach Luxemburg. Der erste Teilflug von Split nach Frankfurt a. M. wurde nicht von der Bekl., sondern von der T durchgeführt. Ursprünglich geplant und als Buchung bestätigt war, dass der Fluggast E sodann mit dem Flug Y von Frankfurt a. M. nach Luxemburg mit Abflug um 17:49 Uhr befördert wird. Aufgrund von Unregelmäßigkeiten auf dem Vorflug konnte der Fluggast den Flug Y allerdings nicht erreichen. Der Fluggast wurde im Rahmen einer Ersatzbeförderung iSv Art. 8 Fluggastrechte-VO auf den Flug X von Frankfurt a. M. nach Luxemburg um 21:45 Uhr umgebucht. Dieser Flug wurde sodann aber annulliert. Die Entfernung der gebuchten Flugstrecke von Split nach Luxemburg beträgt aufgrund der Methode der Großkreisberechnung weniger als 1500 km. Der Fluggast hat seine Ansprüche nach der Fluggastrechte-VO an die Kl. abgetreten.

Die Klage auf Zahlung einer Ausgleichsleistung von 250 Euro hatte Erfolg.

Aus den Gründen

11I. 1. Die Kl. hat gegen die Bekl. einen Anspruch auf Zahlung einer Ausgleichsleistung iHv 250 Euro gem. Art. 7 I Buchst. a, 5 I Buchst. c Fluggastrechte-VO iVm § 398 BGB. Der von der Bekl. als ausführendes Luftfahrtunternehmen geplante Flug X am 1.8.2018 von Frankfurt a. M. nach Luxemburg wurde annulliert iSv Art. 5 Fluggastrechte-VO.

12a) Nach Art. 7 I Fluggastrechte-VO erhalten Fluggäste Ausgleichszahlungen, wenn auf diesen Artikel Bezug genommen wird. Da die Entfernung zwischen dem Startort (Split, Kroatien) und dem Ankunftsort (Luxemburg) der Flugreise des Zedenten weniger als 1500 km beträgt die Höhe des Ausgleichsanspruchs 250 Euro gemäß Buchst. a der vorgenannten Vorschrift. Art. 5 I Buchst. c Fluggastrechte-VO verweist ausdrücklich auf Art. 7 Fluggastrechte-VO. Die in Art. 5 I Buchst. c Nrn. i–iii Fluggastrechte-VO genannten Ausschlussgründe sind nach dem festgestellten unstreitigen Sachverhalt nicht erfüllt. Insofern steht dem Zedenten grundsätzlich ein Anspruch auf Ausgleichsleistung zu.

13b) Die Bekl. wendet ein, dass der Zedent auf den annullierten Flug X lediglich im Rahmen einer Ersatzbeförderung iSv Art. 8 Fluggastrechte-VO umgebucht worden sei und folglich keine ursprüngliche bestätigte Buchung für den streitgegenständlichen Flug hatte. Dieser Einwand führt aber nicht zu einem Anspruchsausschluss zulasten des Zedenten beziehungsweise der Kl.

14So steht es einem Anspruch des Fluggastes gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen nicht entgegen, dass die Umbuchung im Rahmen einer anderweitigen Beförderung von einer Annullierung betroffen ist. Insoweit hat der EuGH in seinem Urteil in Sachen C-832/18 vom 12.3.2020 (NJW 2020, 1127) entschieden, dass die Fluggastrechte-VO und insbesondere Art. 7 I dieser VO dahin auszulegen sind, dass ein Fluggast der wegen der Annullierung eines Fluges eine Ausgleichszahlung erlangt hat und einen ihm angebotenen Alternativflug akzeptiert hat, auch einen Anspruch auf eine Ausgleichszahlung wegen (anspruchsberechtigender „großer“) Verspätung des Alternativflugs hat. Dieser Rechtsprechung schließt sich das erkennende Gericht an und hält die Entscheidung über den konkreten Fall hinaus für generalisierbar und anwendbar.

15Dabei verkennt das Gericht nicht, dass im hier streitgegenständlichen Fall der Ausgangsflug nicht annulliert wurde, sondern wegen einer Verspätung auf dem ersten Teilflug der Flugreise der Anschlussflug nicht erreicht worden ist. Dies hat aber im Ergebnis keine Auswirkung auf die Berechtigung des Zedenten beziehungsweise der Kl. zur Forderung einer Ausgleichszahlung gem. Art. 7 I Fluggastrechte-VO, so dass der hiesige Fall mit dem Fall des EuGH in Sachen C-832/18 (NJW 2020, 1127) gleichwertig ist. Auch verkennt das Gericht nicht, dass auf dem Alternativflug im hier streitgegenständlichen Fall keine „große“ Verspätung, sondern eine Annullierung zum Ausgleichsanspruch führen würde. Auch hier ist im Ergebnis mit Blick auf die Berechtigung zur Forderung einer Ausgleichszahlung gem. Art. 7 I Fluggastrechte-VO kein qualitativer Unterschied zu erkennen. Folglich steht auch insoweit der hiesige Fall dem Fall des EuGH in Sachen C-832/18 (NJW 2020, 1127) gleichwertig gegenüber.

16 Konkret ist davon auszugehen, dass auch für den Alternativflug nach Art. 3 II Buchst. b FluggastrechteVO der Anwendungsbereich eröffnet ist, weil der Zedent nach der Annahme der Ersatzbeförderung iSv Art. 8 Fluggastrechte-VO von einem Luftfahrtunternehmen von einem Flug, für den er eine Buchung besaß (Y), auf einen anderen Flug verlegt wurde (X). Nach Art. 3 II Buchst. b Fluggastrechte-VO ist der Grund für die Verlegung ausdrücklich unbeachtlich. Es kommt im Rahmen von Art. 3 II Buchst. b Fluggastrechte-VO auch nicht darauf an, dass das beklagte oder das ausführende Luftfahrtunternehmen die Verlegung vornimmt, sondern es genügt, wenn irgendein Luftfahrtunternehmen dies veranlasst. Insoweit ist es entgegen der Ansicht der Bekl. unerheblich, dass der erste Teilflug von einem anderen Luftfahrtunternehmen (T) verspätet durchgeführt worden ist sowie dass die Umbuchung von Y auf X eine Unterstützungsleistung des anderen Luftfahrtunternehmens darstellt. Denn durch die Verlegung des Zedenten auf einen anderen Flug entstehen – wie der EuGH klarstellt – bei der Bekl. als ausführendes Luftfahrtunternehmen Verpflichtungen, zum Beispiel zu Unterstützungsleistungen nach Art. 8 Fluggastrechte-VO. So liegt der Fall auch hier. Da die Bekl. dem Zedenten nach der Annullierung des Alternativflugs nach Art. 8 iVm Art. 5 I Buchst. a Fluggastrechte-VO zu Unterstützungsleistungen verpflichtet war, ist sie auch zu Ausgleichszahlungen verpflichtet, weil andernfalls Verletzungen dieser gerade genannten Verpflichtung folgenlos blieben.

17Hinzu kommt, dass nach der oben genannten Rechtsprechung des EuGH dem zweiten Erwägungsgrund der Fluggastrechte-VO besondere Bedeutung zukommt. Da insoweit eine – wie hier vorliegende – Annullierung zu einem wiederholten Ärgernis und einer großen Unnanehmlichkeit beim Fluggast führt, ist der Zweck der Ausgleichsleistung zur Abhilfe dieser Unannehmlichkeit nicht allein durch eine Ausgleichsleistung für den ersten betroffenen Teil der Flugreise erfüllt. Vielmehr stellt die Annullierung des Alternativflugs eine weitere für sich isoliert zu betrachtende Unnanehmlichkeit dar, die entsprechend der Ansicht des EuGH wiederum eine eigene Ausgleichsleistung rechtfertigt.

18Zuletzt verkennt das erkennende Gericht bei der hiesigen Entscheidung nicht, dass in dem Fall, welcher dem Urteil des EuGH in Sachen C-832/18 (NJW 2020, 1127) zugrunde lag, das ausführende Luftfahrtunternehmen in beiden ausgleichspflichtigen Flügen dasselbe war (I). Im hiesigen Fall war für den verspäteten Zubringerflug die T und für den hier streitgegenständlichen annullierten Flug die Bekl. das jeweils ausführende Luftfahrtunternehmen. Dieser Unterschied steht einer Übertragbarkeit nach Überzeugung des Gerichts aber nicht entgegen. Stattdessen rechtfertigt diese Personenverschiedenheit erst recht die Anspruchsberechtigung des Fluggastes gegen beide Luftfahrtunternehmen. Denn im Fall, dass dasselbe Luftfahrtunternehmen den ursprünglichen wie auch den Alternativflug ausführt – wie im Urteil des EuGH – liegt der Gedanke nahe, dass auf die Nichteinhaltung einer einheitlichen Pflicht abzustellen ist (vgl. etwa den Vorlagebeschluss des AG Köln Vorlagebeschl. v. 15.4.2019 – 142 C 558/18 Rn. 8). Bei der Verschiedenheit der ausführenden Luftfahrtunternehmen treffen aber die Pflichten nach der Fluggastrechte-VO jedes Luftfahrtunternehmen selbst, isoliert und unabhängig. Diese Auslegung ist auch angesichts des Ziels des Verordnungsgebers, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen (s. Erwägungsgrund 1 der Fluggastrechte-VO), geboten. Denn würde man im hier streitgegenständlichen Fall eine Ausgleichspflicht der Bekl. für die Annullierung des Alternativflugs verneinen, würde der Fluggast vom ausführenden Luftfahrtunternehmen des ersten Teilflugs (T) keine Ausgleichszahlung für die Annullierung des Fluges X erhalten können, weil dies nicht das ausführende Luftfahrtunternehmen dieses Flugs war. Dies wiederum würde entgegen der oben zitierten Rechtsprechung des BGH faktisch dazu führen, dass der Fluggast für seine wiederholte große Unannehmlichkeit durch die Annullierung des Alternativflugs nicht kompensiert würde.

19c) Der somit in der Person des Zedenten entstandenen Anspruch auf Ausgleichsleistung iHv 250 Euro wurde unstreitig an die Kl. abgetreten. Zweifel an der Wirksamkeit der Abtretung sind weder vorgetragen noch ersichtlich.