I. Hintergrund
Auch wenn der Verfasser die Entscheidung des EuGH kritisch betrachtet, gilt es nun, mit dem in der EU verbindlichen Judikat zu „leben“ und die Relevanz für die Branche der Reiseveranstalter und ihrer Reisekunden zu betonen. Im Zentrum der Rechtsfragen im Zusammenhang der Corona-Pandemie steht bis heute das Rücktrittsrecht der Vertragsparteien aus § 651h BGB iVm Art. 12 RL 2015/2302. Hierbei ist inzwischen weitgehend geklärt, dass die Pandemie als Ausbruch einer schweren Krankheit unvermeidbare außergewöhnliche Umstände nach Art. 12 II der Richtlinie darstellt, soweit die gebuchte Pauschalreise am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe objektiv erheblich beeinträchtigt ist (vgl. zuletzt EuGH ECLI:EU:C:2024:181 = BeckRS 2023, 25433 – Tez Tour (C-299/22); Führich/Staudinger Reiserecht-HdB/Staudinger, 9. Aufl. 2024, § 16 Rn. 19). Hierbei spielt es eine entscheidende Rolle, zu welchem Zeitpunkt die Umstände vorliegen müssen. Art. 12 II der Richtlinie und § 651h III BGB machen keine Aussage darüber. Die unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände müssen lediglich bis vor Beginn der Pauschalreise „auftreten“. Damit ist der Zeitraum zwischen Abschluss des Reisevertrags und dem geplanten Reiseantritt gemeint.
Nach seiner Vorlageentscheidung sind aus Sicht des BGH nicht nur Umstände zum Zeitpunkt des Rücktritts des Reisenden, sondern auch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände zu berücksichtigen, die nach dem Rücktritt, aber noch vor dem geplanten Reisebeginn tatsächlich aufgetreten sind wie zB ein staatliches Einreiseverbot. Diese Frage wurde nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Rechtsprechung der Instanzgerichte unterschiedlich beurteilt und dem EuGH mehrmals u.a. auch vom Obersten Gerichtshof Österreichs vorgelegt. So wurde gerade in der Literatur die Auffassung vertreten, dass die Möglichkeit eines risikolosen früheren Rücktritts nicht dazu führen dürfe, dass der Reisende auf die Fortdauer einer sich abzeichnenden Krise spekulieren und das Risiko einer erheblichen Beeinträchtigung auf den Veranstalter abwälzen könnte (Schmidt COVID-19/Staudinger/Achilles-Pujol, 3. Aufl. 2021, § 7 Rn. 26; Ruks RRa 2022, 12 (14); BeckOK BGB/Geib, Stand: 1.4.2024, BGB § 651h Rn. 24; jurisPK/Steinrötter, § 651h Rn. 44.1; Binger RRa 2021, 2027 (210); AG Duisburg 14.12.2020 – 506 C 237720, BeckRS 2020, 37777). Der BGH und gewichtige Stimmen in der Literatur wollten dagegen, unabhängig von den Erkenntnismöglichkeiten im Zeitpunkt des Rücktritts, dem Veranstalter dann eine Stornoentschädigung versagen, wenn die Durchführung der Reise später doch objektiv erheblich beeinträchtigt war oder der Veranstalter mit seiner Reiseabsage selbst vom Vertrag gem. § 651h IV 1 Nr. 2 wegen außergewöhnlicher Umstände zurücktritt (so BGH 2.8.2022 – X ZR 5321, BeckRS 2022, 21810 (Vorlageentscheidung); Harke RRa 2020, 207; BeckOGK BGB/Harke BGB § 651h Rn. 48; Ullenboom RRa 2021, 155 (162)), Führich NJW 2020, 2137 (2140); Führich MDR 2021, 777 (779) und in der Judikatur LG Frankfurt a. M. 10.8.2021 – 2 24 S 31/21, BeckRS 2021, 23370; 14.10.2021 – 2-24 S 40/21, BeckRS 2021, 33155; 24.2.2022 – 2 24 S 113/21, BeckRS 2022, 27566; LG Düsseldorf 25.10.2021 – 22 S 77/21, BeckRS 2021, 55370; AG München 26.5.2021 – 113 C 20625/20, BeckRS 2021, 21314 = RRa 2022, 26; AG Aschaffenburg 18.1.2021 – 126 C 1267/20, BeckRS 2021, 3262; AG Hannover 7.5.2021 – 548 C 7046/20, BeckRS 2021, 22113; AG Stuttgart NJW-RR 2021, 313).
II. Bewertung
Mit dem EuGH und dem vorlegenden BGH ist regelmäßig davon auszugehen, dass zum Zeitpunkt des Rücktritts des Reisenden in einer ex-ante Beurteilung vorausschauend eine Prognose anzustellen ist, ob wahrscheinlich unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände bis zum Reisebeginn auftreten. Entscheidend ist, wenn nach dem vernünftigen Ermessen eines Durchnittsreisenden dieser eine voraussichtliche erhebliche Beeinträchtigung annehmen konnte. Ist dies der Fall, hat der Reisende nach Art. 12 II iVm § 651h III BGB keine „Rücktrittsgebühren“ zu zahlen. Damit trägt der Reisende bei seinem Rücktritt grundsätzlich das Prognoserisiko, wenn sein Rücktritt „vorschnell“ und doch keine erhebliche Beeinträchtigung der Reise oder seiner Anreise zu erwarten war.
Der EuGH stellte mit seiner Auslegung des Art. 12 II der Richtlinie nunmehr allgemeinverbindlich klar, dass für die Feststellung, ob unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände aufgetreten sind, nur diese bestimmte Situation im Zeitpunkt der Rücktrittserklärung zu berücksichtigen ist. Er folgt damit den Schlussanträgen der Generalanwältin und stellt sich gegen die Auslegung durch das höchste deutsche Zivilgericht, wonach die Systematik von Art. 12 I zu II der Richtlinie, der Zweck der Rücktrittsgebühr und der Verbraucherschutz es gebiete auch Umstände zu berücksichtigen, die erst nach dem Rücktritt des Reisenden aufgetreten sind. Obwohl der Wortlaut von Art. 12 II klar auf das Vorliegen außergewöhnlicher, unvermeidbarer Umstände für das Zeitfenster vom Zeitpunkt des Vertragsschlusses bis zum Reisebeginn abstellt und damit keinen Zusammenhang mit dem Zeitpunkt der Rücktrittserklärung herstellt und daher auch nachträgliche Umstände zu berücksichtigen scheint, meint der EuGH aus Gründen der Rechtssicherheit für den Unternehmer nur auf den Rücktrittszeitpunkt des Reisenden abstellen zu müssen. Die Berücksichtigung späterer Entwicklungen bis zum geplanten Reiseantritt würde zu einer fortdauernden Unsicherheit führen, da es dann vom Zufall abhinge, ob und wie hoch eine Rücktrittsgebühr anfiele, was nur im Nachhinein nach der Reise festgestellt werden könnte. Damit stellt der EuGH den Gesichtspunkt der Rechtsicherheit für den Reiseveranstalter über das Ziel der Richtlinie, ein hohes Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten. Ein Rücktritt aus Angst zB vor den Folgen der Corona-Pandemie ohne Vorliegen hinreichender Umstände berechtigt nach Auslegung durch den EuGH den Veranstalter zu der vertraglich vorgesehenen Stornoentschädigung, obwohl nach dem Rücktritt, aber noch vor Reisebeginn, solche Umstände eingetreten sind, die zu diesem Zeitpunkt sehr wohl den Rücktritt ohne Entschädigung gerechtfertigt hätten.
Der EuGH sieht es nicht als unbillig für den Verbraucher an, dass der Veranstalter dann seine Vergütung vom Kunden verlangen kann, ohne selbst einen Schaden zu haben, da die jeweiligen Leistungserbringer wie Airlines oder Hotels in Folge der coronabedingten Unmöglichkeit der Reisedurchführung keinen Vergütungsanspruch gegen den Veranstalter haben und auf ihren Kosten sitzen bleiben. Dies widerspricht nach Auffassung des Verfassers auch offen dem Grundsatz des zivilrechtlichen synallagmatischen Leistungsaustausches. Dass dieser Grundsatz auch durch Art. 12 III der Richtlinie bestätigt wird, wonach der Reiseveranstalter auch im Falle seines Rücktritts durch eine Reiseabsage dem Reisenden alle Zahlungen innerhalb einer Frist von 14 Tagen zu erstatten hat, lässt der EuGH unbeantwortet. Auch das Argument der Unsicherheit bis zum Beginn der Reise wird nicht durch diese Frist des § 651h V BGB bestätigt, da dieser Zeitraum nur die Rückzahlung des vom Reisenden gezahlten Reisepreises betrifft und nicht die Bezifferung des Entschädigungsanspruchs, der sich erst im Rahmen einer Aufrechnung mit dem Rückzahlungsanspruch durch den Veranstalter ergibt, der durchaus auch zu einem späteren Zeitpunkt geltend gemacht werden kann. Zudem kann in der Praxis im Fall einer nicht pauschalierten, sondern individuell zu bestimmenden Entschädigung diese nicht innerhalb dieser kurzen Frist beziffert werden.
III. Praxisfolgen
So verwundert es nicht, dass die Reisebranche das Judikat begrüßte, da es für den EuGH keine Rolle spielt, wenn nach dem Rücktritt des Reisenden, die Reisedurchführung wegen eines später vor Reisebeginn ausgesprochenen staatlichen Einreiseverbots doch noch unmöglich wird und der Veranstalter seine Reise selbst absagt. Gleichwohl ist es wegen der regelmäßig hohen Stornopauschalen in den AGB ab dem 30. Tag vor Reisebeginn, im Interesse des Reisenden, möglichst frühzeitig zurückzutreten. Deswegen hat der Verfasser bereits zu Beginn der Corona-Krise als bloße Faustregel empfohlen, dass für eine Prognose einer Wahrscheinlichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung eine Frist von vier Wochen vor Reisebeginn hilfreich sein könnte. Je kürzer die verbleibende Frist bis zum Reisebeginn ist, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass doch erhebliche Beeinträchtigungen auch im Zeitpunkt zum Reisebeginn bestehen (Führich NJW 2020, 2137). Diese Empfehlung gilt erst recht nach der verbindlichen Auslegung durch den EuGH.
* Der Autor ist Prof. em. für Wirtschafts- und Reiserecht

