RL (EU) 2015/2302 (Pauschalreise-RL) Art. 4, 12

In diesem Urteil stellt der EuGH fest, dass sich die Mitgliedstaaten nicht auf höhere Gewalt berufen können, um die Pauschalreiseveranstalter – auch nur vorübergehend – von der in der Pauschalreiserichtlinie vorgesehenen Verpflichtung zur Erstattung in Geld durch einen Zwangsgutschein zu befreien. 

Tenor des Gerichts:

1. Art. 12 II und III RL (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.11.2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der VO (EG) Nr. 2006/2004 und der RL 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der RL 90/314/EWG ist dahin auszulegen, dass, wenn der Reiseveranstalter nach dieser Bestimmung im Fall des Rücktritts von einem Pauschalreisevertrag verpflichtet ist, dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll zu erstatten, unter einer solchen Erstattung ausschließlich eine Erstattung der Zahlungen in Geld zu verstehen ist.

2. Art. 12 II bis IV RL (EU) 2015/2302 iVm deren Art. 4 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Pauschalreiseveranstalter im Kontext des Ausbruchs einer weltweiten gesundheitlichen Notlage, wegen derer Pauschalreiseverträge nicht erfüllt werden können, vorübergehend von ihrer Verpflichtung befreit sind, den Reisenden innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll zu erstatten, und zwar auch dann, wenn die Regelung dazu dient, zu verhindern, dass wegen der hohen Zahl der zu erwartenden Erstattungsforderungen die Liquidität der Reiseveranstalter derart beeinträchtigt wird, dass deren Existenz bedroht ist, und damit dazu, die Lebensfähigkeit der betreffenden Branche zu erhalten.

3. Das Unionsrecht, insbesondere der in Art. 4 III EUV verankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, das über eine Klage auf Nichtigerklärung einer nationalen Regelung zu entscheiden hat, die gegen Art. 12 II bis IV RL (EU) 2015/2302 verstößt, danach nicht befugt ist, die Wirkungen seiner Entscheidung, mit der die nationale Regelung für nichtig erklärt wird, in zeitlicher Hinsicht anzupassen.

EuGH (Zweite Kammer), Urteil vom 8.6.2023 – C-407/21 (Union fédérale des consommateurs – Que choisir/Premier ministre ua), EuZW 2023, 709 mit Anm. Ernst Führich

Zum Sachverhalt:

Das Urteil betrifft die Auslegung von Art. 12 RL (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.11.2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der VO (EG) Nr. 2006/2004 und der RL 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der RL 90/314/EWG des Rates (ABl. 2015 L 326, 1; im Folgenden: RL 2015/2302). Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Union fédérale des consommateurs – Que choisir (UFC – Que choisir) und Consommation, logement et cadre de vie (CLCV) einerseits und dem Premier ministre (Premierminister) und dem Ministre de l’Économie, des Finances et de la Relance (Minister für Wirtschaft, Finanzen und Aufschwung) andererseits wegen eines Antrags auf Nichtigerklärung der Ordonnance no 2020-315, du 25 mars 2020, relative aux conditions financières de résolution de certains contrats de voyages touristiques et de séjours en CAS de circonstances exceptionnelles et inévitables ou de force majeure (Rechtsverordnung Nrn. 2020-315 vom 25.3.2020 über die finanziellen Bestimmungen für die Auflösung bestimmter Verträge über touristische Reisen und Urlaubsaufenthalte im Fall unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände oder höherer Gewalt) (JORF v. 26.3.2020, Text Nr. 35) (im Folgenden: Rechtsverordnung Nrn. 2020-315) wegen Rechtswidrigkeit.

Die Kl. des Ausgangsverfahrens, zwei Verbraucherschutzvereine, haben beim vorlegenden Gericht Klage auf Nichtigerklärung der Rechtsverordnung Nrn. 2020-315 erhoben. Sie machen geltend, dass die Vorschriften dieser Rechtsverordnung gegen Art. 12 RL 2015/2302 verstießen, der für den Reisenden im Fall des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag wegen des Auftretens „unvermeidbare(r), außergewöhnli- che(r) Umstände“ einen Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen innerhalb von spätestens 14 Tagen nach dem Rücktritt vom Pauschalreisevertrag vorsieht. Außerdem beeinträchtigten sie den freien Wettbewerb im Binnenmarkt und liefen dem mit der Richtlinie verfolgten Ziel der Harmonisierung zuwider.

Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Bestimmungen der Rechtsverordnung Nrn. 2020-315 erlassen worden seien, um die Finanzlage und die Liquidität der Leistungserbringer im Sinne dieser Bestimmungen in einem Kontext zu sichern, in dem sich mehr als 7.000 in Frankreich registrierte Reiseveranstalter, die aufgrund der Covid-19-Pandemie, die gleichzeitig nicht nur Frankreich und die meisten Länder Europas, sondern auch fast alle Kontinente betroffen habe, mit einem Volumen von Stornierungen beauftragter Leistungen in einem noch nie erreichten Ausmaß und damit konfrontiert gewesen seien, dass nahezu keine Aufträge eingegangen seien, in großen Schwierigkeiten befunden hätten und in dem eine sofortige Erstattung aller für die stornierten Leistungen gezahlten Entgelte angesichts dieser Umstände geeignet gewesen sei, die Existenz der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer und damit die Möglichkeit für die Kunden, eine Erstattung der gezahlten Entgelte erhalten zu können, zu gefährden.

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass sich der Gesamtbetrag der Gutscheine, die von französischen Unternehmen bis zum 15.9.2020, dem Ende der Anwendung der Rechtsverordnung Nrn. 2020-315, ausgestellt worden seien, auf etwa 990 Mio. EUR belaufe. Dies entspreche 10 % des Umsatzes, den die Branche in einem normalen Jahr erziele.

Der Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH seine Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Der EuGH hat nach Anhörung der Generalanwältin Medina (ECLI:EU:C:2022:690 = BeckRS 2022, 23451) wie aus dem Tenor ersichtlich entschieden. 

Aus den Gründen:

Zur ersten Frage

18Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 12 II und III RL 2015/2302 dahin auszulegen ist, dass, wenn der Reiseveranstalter nach dieser Bestimmung im Fall des Rücktritts von einem Pauschalreisevertrag verpflichtet ist, dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll zu erstatten, unter einer solchen Erstattung ausschließlich eine Erstattung der Zahlungen in Geld zu verstehen ist oder ob die Erstattung nach Belieben des Reiseveranstalters auch in Form eines Guthabens in Höhe der Zahlungen (dh eines „Gutscheins“) erfolgen kann.

19Nach Art. 12 II RL 2015/2302 hat der Reisende das Recht, vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Er hat im Fall des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag gemäß dieser Bestimmung Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen.

20Nach Art. 12 III Buchst. b RL 2015/2302 kann der Reiseveranstalter, wenn er aufgrund „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ an der Erfüllung des Vertrags gehindert ist und er den Reisenden unverzüglich vor Beginn der Pauschalreise von der Beendigung des Vertrags in Kenntnis setzt, den Pauschalreisevertrag beenden und dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll erstatten, ohne jedoch eine zusätzliche Entschädigung leisten zu müssen.

21Nach Art. 12 IV RL 2015/2302 erhält der Reisende diese Erstattungen oder Rückzahlungen unverzüglich und in jedem Fall innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags.

22Im vorliegenden Fall ist Hintergrund der ersten Vorlagefrage der Erlass der Rechtsverordnung Nrn. 2020-315 durch die französische Regierung. Nach deren Art. 1 konnten Reiseveranstalter ihrer Verpflichtung zur Erstattung bei zwischen dem 1.3. und dem 15.9.2020 zugegangenen „Auflösungen“ dadurch nachkommen, dass sie dem Reisenden spätestens drei Monate nach dem Zugang der „Auflösung“ des Pauschalreisevertrags einen Gutschein in Höhe der für die Pauschalreise getätigten Zahlungen anboten. Das Angebot blieb 18 Monate lang gültig.

23Was die Frage angeht, ob ein solches Angebot eine „Erstattung“ iSv Art. 12 II und III RL 2015/2302 darstellen kann, ist zunächst festzustellen, dass der Begriff der Erstattung in der Richtlinie an keiner Stelle definiert wird.

24Nach stRpsr sind die Bedeutung und die Tragweite von Begriffen, die das Unionsrecht nicht definiert, entsprechend ihrem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgten Ziele zu bestimmen (EuGH ECLI:EU:C:2021:213 = EuZW 2021, 512 Rn. 37 – Kuoni Travel (C-578/19)).

25Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch ist mit „erstatten“ gemeint, dass einer Person Geld zurückgegeben wird, das sie an eine andere Person gezahlt hat oder dieser geliehen hat. Letzte muss Ersterer das Geld also zurückzahlen. Diese Bedeutung ergibt sich auch eindeutig aus dem Wortlaut von Art. 12 II und III RL 2015/2302, wenn man diese Bestimmungen in ihrer Gesamtheit sieht. In diesen Bestimmungen ist davon die Rede, dass die für die Pauschalreise „getätigten Zahlungen“ voll zu erstatten sind, so dass kein Zweifel daran besteht, was zu erstatten ist, nämlich Geld.

26Unter „Erstattung“ iSv Art. 12 II und III der Richtlinie ist demnach die Rückzahlung der für eine Pauschalreise getätigten Zahlungen in Geld zu verstehen.

27Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen der slowakischen Regierung, dass bei dem Begriff der Erstattung insbesondere in der deutschen und der englischen Sprachfassung von Art. 12 IV RL 2015/2302 terminologisch zwischen der Rückzahlung (englische Sprachfassung: “reimbursement“, deutsche Sprachfassung: „Rückzahlung“) der Zahlungen gem. Art. 12 I der Richtlinie und der „Erstattung“ (englische Sprachfassung: “refund“, deutsche Sprachfassung: „Erstattung“) der Zahlungen gem. Art. 12 II und III der Richtlinie unterschieden werde und eine solche „Erstattung“ auch eine Entschädigung in anderer Form als in Geld umfasse.

28Diese terminologische Unterscheidung ist mit der Auslegung dieser Bestimmungen dahin, dass der Begriff der Erstattung eine Erstattung in Geld umfasst, nämlich durchaus vereinbar. Im Übrigen kann die in einer der Sprachfassungen einer Vorschrift des Unionsrechts verwendete Formulierung nach einer stRspr des EuGH jedenfalls nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung der Vorschrift herangezogen werden oder Vorrang vor den anderen sprachlichen Fassungen beanspruchen. Weichen die verschiedenen Sprachfassungen voneinander ab, muss die Vorschrift nach dem Zusammenhang, in dem sie steht, und dem Zweck der Regelung, zu der sie gehört, ausgelegt werden (vgl. idS EuGH ECLI:EU:C:2020:532 = BeckRS 2020, 15183 Rn. 33 mwN – Banca Transilvania (C-81/19)).

29Der Zusammenhang, in dem Art. 12 II und III RL 2015/2302 steht, und das Ziel der Richtlinie bestätigen aber die Auslegung, die oben in Rn. 26 ausgehend vom Wortlaut vorgenommen wurde.

30Was zum einen den Zusammenhang der Bestimmung angeht, spricht der Umstand, dass die Rückzahlung nach Art. 12 IV der Richtlinie innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags zu erfolgen hat, dafür, dass die Erstattung in Geld zu erfolgen hat. Mit dieser Frist soll nämlich gewährleistet werden, dass der Reisende kurze Zeit nach der Beendigung des Pauschalreisevertrags erneut frei über das Geld verfügen kann, das er für die Pauschalreise gezahlt hat. Die Frist wäre wenig nützlich, wenn sich der Reisende mit einem Gutschein oder einer anderen zeitversetzten Leistung begnügen müsste, den bzw. die er ohnehin erst nach Ablauf der Frist nutzen könnte.

31Im Übrigen geht – wie auch die Generalanwältin in Rn. 26 ihrer Schlussanträge (Medina ECLI:EU:C:2022:690 = BeckRS 2022, 23451) im Wesentlichen ausgeführt hat – aus dem größeren Zusammenhang, in dem die RL 2015/2302 steht, nämlich dem Bereich der Rechte der Reisenden und des Verbraucherschutzes, hervor, dass, wenn der Unionsgesetzgeber in diesem Bereich in einem bestimmten Rechtsakt vorsehen will, dass eine Verpflichtung zur Zahlung von Geld durch eine Leistung in einer anderen Form wie etwa das Angebot eines Gutscheins ersetzt werden kann, er dies in dem betreffenden Rechtsakt auch ausdrücklich vorsieht. Das Fehlen irgendeines Anhaltspunkts im Wortlaut von Art. 12 RL 2015/2302 für eine solche Möglichkeit bestätigt daher, dass sich dieser Artikel nur auf Erstattungen in Geld bezieht.

32Was zum anderen das mit der RL 2015/2302 verfolgte Ziel angeht, ergibt sich aus Art. 1 der Richtlinie in Verbindung mit deren fünftem Erwgr., dass dieses Ziel darin besteht, zum ordnungsgemäßen Funktionieren des Binnenmarkts und zu einem hohen und möglichst einheitlichen Verbraucherschutzniveau beizutragen (vgl. idS EuGH ECLI:EU:C:2023:10 = EuZW 2023, 344 Rn. 29 – FTI Touristik (Pauschalreise auf die Kanarischen Inseln) (C-396/21)).

33Mit dem Anspruch auf Erstattung, der dem Reisenden nach Art. 12 II und III der Richtlinie zusteht, wird diesem Ziel des Verbraucherschutzes Rechnung getragen. Eine Auslegung des Begriffs der „Erstattung“ iSv Art. 12 der Richtlinie dahin, dass der Reisende Anspruch auf Erstattung der für die Pauschalreise getätigten Zahlungen in Geld hat, über das er frei verfügen kann, ist daher geeigneter, zum Schutz seiner Interessen und damit zur Verwirklichung des genannten Ziels beizutragen als eine Auslegung dahin, dass es genügen würde, dass der Reiseveranstalter ihm einen Gutschein oder eine andere Form des zeitversetzten Ausgleichs anbietet.

34Natürlich bleibt es dem Reisenden, der Partei eines Pauschalreisevertrags ist, unbenommen, sich freiwillig damit einverstanden zu erklären, anstatt einer Erstattung in Geld einen Gutschein zu akzeptieren. Denn, wie aus dem neunten Erwgr. der Empfehlung 2020/648 hervorgeht, lässt dies seinen Anspruch auf Erstattung unberührt.

35Somit ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 12 II und III RL 2015/2302 dahin auszulegen ist, dass, wenn der Reiseveranstalter nach dieser Bestimmung im Fall des Rücktritts von einem Pauschalreisevertrag verpflichtet ist, dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll zu erstatten, unter einer solchen Erstattung ausschließlich eine Erstattung der Zahlungen in Geld zu verstehen ist.

Zur zweiten Frage

36Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 12 II bis IV RL 2015/2302 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Pauschalreiseveranstalter im Kontext des Ausbruchs einer weltweiten gesundheitlichen Notlage, wegen derer Pauschalreiseverträge nicht erfüllt werden können, vorübergehend von ihrer Verpflichtung befreit sind, den Reisenden innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll zu erstatten, und zwar auch dann, wenn die Regelung dazu dient, zu verhindern, dass wegen der hohen Zahl der zu erwartenden Erstattungsforderungen die Liquidität der Reiseveranstalter derart beeinträchtigt wird, dass deren Existenz bedroht ist, und damit dazu, die Lebensfähigkeit der betreffenden Branche zu erhalten.

37Nach der auf die erste Frage gegebenen Antwort ist der Reiseveranstalter nach Art. 12 II und III Buchst. b RL 2015/2302 verpflichtet, dem Reisenden im Fall des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag wegen des Auftretens „unvermeidbare(r), außergewöhnliche(r) Umstände“, die den Vertrag oder dessen Durchführung erheblich beeinträchtigen, alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen in Geld zu erstatten.

38Wie bereits ausgeführt (s. oben Rn. 22), konnten die Reiseveranstalter dem Reisenden bei zwischen dem 1.3. und dem 15.9.2020 zugegangenen „Auflösungen“, dh in einem Zeitraum, der kurz vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie begann und einige Monate danach endete, nach Art. 1 der Rechtsverordnung Nrn. 2020-315 bis zu drei Monate nach dem Zugang der „Auflösung“ des betreffenden Pauschalreisevertrags einen Gutschein anbieten, anstatt die für die Pauschalreise getätigten Zahlungen in Geld zu erstatten. Eine Verpflichtung zur Erstattung bestand erst nach Ablauf der 18 Monate, in denen der Gutschein gültig war.

39Die zweite Frage dient im Wesentlichen dazu, es dem vorlegenden Gericht zu ermöglichen, zu beurteilen, ob eine solche nationale Regelung mit der Verpflichtung zur vollen Erstattung des Reiseveranstalters gem. Art. 12 II und III Buchst. b RL 2015/2302 vereinbar ist. Sie beruht daher zwangsläufig auf der Annahme, dass im vorliegenden Fall die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Bestimmung, insbesondere die des Auftretens „unvermeidbare(r), außergewöhnliche(r) Umstände“, erfüllt sind.

40Die tschechische, die italienische und die slowakische Regierung machen geltend, dass Art. 12 II und III Buchst. b RL 2015/2302 im Kontext einer weltweiten gesundheitlichen Notlage wie der, die durch die Covid-19-Pandemie hervorgerufen worden sei, überhaupt nicht anwendbar sei. Ein solches Ereignis falle nicht unter den Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände im Sinne dieser Bestimmung. Trete ein Reisender wegen einer solchen gesundheitlichen Notlage vom Pauschalreisevertrag zurück, könne er keinen Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen haben.

41Als Erstes ist daher zu prüfen, ob eine weltweite gesundheitliche Notlage wie die Covid-19-Pandemie unter den Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände iSv Art. 12 II und III Buchst. bRL 2015/2302 fallen kann und diese Bestimmung damit auf Rücktritte, wie sie in einer nationalen Regelung wie Art. 1 der Rechtsverordnung Nrn. 2020-315 geregelt sind, Anwendung finden kann.

42Der Ausdruck „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ bezeichnet nach Art. 3 Nr. 12 RL 2015/2302 „eine Situation außerhalb der Kontrolle der Partei, die eine solche Situation geltend macht, deren Folgen sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären“.

43Der Begriff wird im 31. Erwgr. der Richtlinie näher erläutert, wo es heißt, dass „(d)ies … zum Beispiel Kriegshandlungen, andere schwerwiegende Beeinträchtigungen der Sicherheit wie Terrorismus, erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit wie einen Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel oder Naturkatastrophen wie Hochwasser oder Erdbeben oder Witterungsverhältnisse, die eine sichere Reise an das im Pauschalreisevertrag vereinbarte Reiseziel unmöglich machen, umfassen (kann).“

44Wie bereits ausgeführt (s. oben Rn. 19), geht aus Art. 12 II RL 2015/2302 hervor, dass „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ einen Rücktritt des Reisenden, der einen Anspruch des Reisenden auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen begründet, nur dann rechtfertigen können, wenn sie „am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe“ auftreten und „die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“.

45Im Fall des Rücktritts von einem Pauschalreisevertrag hängt die Einstufung eines bestimmten Ereignisses als Situation, die unter den Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände im Sinne der Richtlinie fällt, zwangsläufig von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere von den konkret vereinbarten Reiseleistungen und den Auswirkungen des Ereignisses am Bestimmungsort. Bei einer weltweiten gesundheitlichen Notlage wie der Covid-19-Pandemie ist aber davon auszugehen, dass sie per se unter diesen Begriff fallen kann.

46Ein solches Ereignis ist nämlich ganz offensichtlich außerhalb jeglicher Kontrolle, und seine Folgen hätten sich auch dann nicht vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären. Im Übrigen zeigt es, dass „erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit“ im Sinne des 31. Erwgr. der Richtlinie bestehen.

47Insoweit ist nicht von Belang, dass der Ausdruck „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ im 31. Erwgr. der RL 2015/2302 wie in deren Art. 12 II mit dem Beispiel des „Ausbruch(s) einer schweren Krankheit am Reiseziel“ erläutert wird. Eine solche Präzisierung dient nämlich nicht dazu, den Umfang des Begriffs der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände auf lokale Ereignisse zu beschränken, sondern dazu, zu verdeutlichen, dass solche Umstände jedenfalls am Bestimmungsort auftreten und deshalb die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigen müssen.

48Kann die Ausbreitung einer schweren Krankheit am Bestimmungsort unter den Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände fallen, muss dies – wie auch die Generalanwältin in Rn. 58 ihrer Schlussanträge (Medina ECLI:EU:C:2022:690 = BeckRS 2022, 23451) im Wesentlichen ausgeführt hat – erst recht für die weltweite Ausbreitung einer schweren Krankheit gelten. Deren Auswirkungen betreffen nämlich auch den Bestimmungsort.

49Im Übrigen wäre eine Auslegung von Art. 12 II und III Buchst. b RL 2015/2302 dahin, dass diese Bestimmung ausschließlich auf Ereignisse von lokaler Tragweite Anwendung fände und nicht auf Ereignisse mit einer größeren Tragweite, nicht mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar. Da in der Richtlinie insoweit kein Abgrenzungskriterium vorgesehen ist, könnte die Abgrenzung zwischen den beiden Kategorien von Ereignissen nämlich unscharf sein und schwanken, was letztlich dazu führen würde, dass es vom Zufall abhängen würde, ob der Reisende in den Genuss der Bestimmung gelangt.

50Außerdem wäre eine solche Auslegung nicht mit dem Ziel des Verbraucherschutzes zu vereinbaren, das mit der RL 2015/2302 verfolgt wird. Sie würde nämlich bedeuten, dass Reisende, die vom Pauschalreisevertrag wegen des Auftretens einer lokal begrenzten Krankheit zurücktreten, keine Rücktrittsgebühr zahlen müssten, wohl aber Reisende, die von ihrem Vertrag wegen des Auftretens einer weltweiten Krankheit zurücktreten. Die Reisenden würden beim Auftreten einer weltweiten gesundheitlichen Notlage mithin über einen geringeren Schutz verfügen als beim Auftreten einer lokal begrenzten Krankheit.

51Demnach kann der Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände iSv Art. 12 II und III Buchst. b RL 2015/2302 den Ausbruch einer weltweiten gesundheitlichen Notlage umfassen, so dass diese Bestimmung auf den Rücktritt von einem Pauschalreisevertrag wegen der Auswirkungen eines solchen Ereignisses anwendbar ist.

52Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass die französische Regierung geltend macht, dass eine Situation wie die durch die Covid-19-Pandemie hervorgerufene gesundheitlichen Notlage eine so große Tragweite habe, dass sie auch einen Fall „höherer Gewalt“ darstelle. Dieser Begriff könne Fälle umfassen, deren Merkmale über die Situationen hinausgehen könnten, an die beim Erlass von Art. 12 II und III Buchst. b RL 2015/2302 gedacht worden sei. In solchen Fällen könnten die Mitgliedstaaten daher von dieser Bestimmung abweichen.

53Nach stRspr. ist die Bedeutung des Begriffs der höheren Gewalt, da er auf den verschiedenen Anwendungsgebieten des Unionsrechts nicht den gleichen Inhalt hat, anhand des rechtlichen Rahmens zu bestimmen, innerhalb dessen er seine Wirkungen entfalten soll (EuGH ECLI:EU:C:2017:39 = BeckRS 2017, 100440 Rn. 54 – Vilkas (C-640/15)).

54Wie die französische Regierung selbst einräumt, gleicht der Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände iSv Art. 12 II und III Buchst. b RL 2015/2302 aber dem Begriff der höheren Gewalt, wie er nach einer gefestigten Rechtsprechung definiert wird, nämlich als vom Willen desjenigen, der sich auf höhere Gewalt beruft, unabhängige, ungewöhnliche und unvorhersehbare Umstände, deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können (EuGH ECLI:EU:C:2010:115 = BeckRS 2010, 90244 Rn. 85 – Kommission/Italien (C-297/08)). Der Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände stellt mithin eine Ausprägung des Begriffs der höheren Gewalt im Rahmen der Richtlinie dar, auch wenn dieser Ausdruck in der Richtlinie nicht vorkommt.

55Im Übrigen bestätigen – wie auch die Generalanwältin in Rn. 55 ihrer Schlussanträge (Medina ECLI:EU:C:2022:690 = BeckRS 2022, 23451) ausgeführt hat – die Entstehungsgeschichte der RL 2015/2302, insbesondere die entsprechenden Vorarbeiten, dass der Begriff der höheren Gewalt durch den Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände ersetzt wurde, der in der RL 90/314/EWG des Rates vom 13.6.1990 über Pauschalreisen (ABl. 1990 L 158, 59), die durch die RL 2015/2302 aufgehoben und ersetzt wurde, enthalten war.

56Der Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände iSv Art. 12 II und III Buchst. b RL 2015/2302 stellt demnach eine umfassende Durchführung des Begriffs der höheren Gewalt für die Zwecke der Richtlinie dar.

57Die Mitgliedstaaten dürfen Pauschalreiseveranstalter daher nicht wegen höherer Gewalt von ihrer Verpflichtung zur Erstattung gem. Art. 12 II bis IV RL 2015/2302 befreien, und zwar auch nicht vorübergehend. Denn weder diese Bestimmung noch irgendeine andere Bestimmung der Richtlinie machen wegen höherer Gewalt eine Ausnahme von dem zwingenden Charakter dieser Verpflichtung (vgl. entspr. EuGH ECLI:EU:C:2013:613 = EuZW 2013, 906 Rn. 49 u. 50 – ÖBB-Personenverkehr (C-509/11)).

58Im Fall des Rücktritts von einem Pauschalreisevertrag wegen Ausbruchs einer weltweiten gesundheitlichen Notlage sind die Reiseveranstalter somit verpflichtet, dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen nach Maßgabe von Art. 12 IV der Richtlinie voll zu erstatten.

59Was als Drittes die Frage angeht, ob die RL 2015/2302 es den Mitgliedstaaten dennoch gestattet, die Pauschalreiseveranstalter bei einer weltweiten gesundheitlichen Notlage wie der Covid-19-Pandemie von der Verpflichtung zur vollen Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen zu befreien, ist festzustellen, dass sich aus Art. 4 der Richtlinie ergibt, dass mit ihr, wenn nichts anderes bestimmt ist, eine vollständige Harmonisierung des geregelten Bereichs bezweckt wird. Die Mitgliedstaaten dürfen daher keine von den Bestimmungen der Richtlinie abweichenden Bestimmungen erlassen, insbesondere auch keine strengeren Bestimmungen zur Gewährleistung eines anderen Schutzniveaus für den Reisenden.

60Ferner ergibt sich aus Art. 23 II und III RL 2015/2302, dass die Rechte, die den Reisenden in der Richtlinie zuerkannt werden, unabdingbar sind.

61Die Befreiung der Reiseveranstalter von ihrer Verpflichtung zur Erstattung der für eine Pauschalreise getätigten Zahlungen führt aber zwangsläufig zu einer Senkung des Niveaus des Schutzes des Reisenden, wie es sich aus Art. 12 II bis IV der Richtlinie ergibt. Dies ist nicht mit Art. 4 RL 2015/2302 vereinbar.

62Eine nationale Regelung, die die Pauschalreiseveranstalter von der Verpflichtung zur Erstattung gem. Art. 12 II bis IV RL 2015/2302 befreit, verstößt mithin gegen diese Bestimmung.

63Die slowakische Regierung macht geltend, dass sich die Mitgliedstaaten beim Erlass einer solchen Regelung im Rahmen der Durchführung der RL 2015/2302 auf höhere Gewalt berufen könnten, wenn die nachteilige Situation, die durch eine weltweite gesundheitliche Notlage wie der Covid-19-Pandemie hervorgerufen werde, insbesondere die finanziellen Folgen für die Tourismusbranche, sie daran hindere, ihrer Verpflichtung zur Umsetzung der Richtlinie nachzukommen.

64Es ergibt sich aus der oben in Rn. 62 getroffenen Feststellung, dass eine nationale Regelung, die die Pauschalreiseveranstalter von der Verpflichtung zur Erstattung gem. Art. 12 II bis IV RL 2015/2302 befreit, einen Verstoß gegen die Verpflichtung eines jeden Mitgliedstaats, an die die RL 2015/2302 gerichtet ist, in seiner nationalen Rechtsordnung alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um deren volle Wirksamkeit gemäß ihrer Zielsetzung zu gewährleisten, darstellen kann (vgl. idS EuGH ECLI:EU:C:2022:548 = BeckRS 2022, 16289 Rn. 69 – Nord Stream 2/Parlament und Rat, (C-348/20 P)).

65Der EuGH hat entschieden, dass die Befürchtung, dass es zu internen Schwierigkeiten kommen könne, keine Rechtfertigung dafür sein kann, dass ein Mitgliedstaat die korrekte Anwendung des Unionsrechts unterlässt (EuGH ECLI:EU:C:2009:96 = NVwZ 2009, 577 Rn. 50 mwN = EuZW 2009, 711 Ls. – Azelvandre (C-552/07)).

66Zwar ergibt sich aus der Rechtsprechung des EuGH im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV, dass sich ein Mitgliedstaat, der seinen Verpflichtungen aus dem Unionsrecht nicht nachgekommen ist, insoweit durchaus auf höhere Gewalt berufen kann.

67Nach stRspr. setzt der Begriff der höheren Gewalt zwar keine absolute Unmöglichkeit voraus, wohl aber, dass der Nichteintritt der fraglichen Tatsache auf vom Willen desjenigen, der sich auf höhere Gewalt beruft, unabhängigen, ungewöhnlichen und unvorhersehbaren Umständen beruht, deren Folgen trotz aller aufgewandten Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können, wobei sich ein Mitgliedstaat auf höhere Gewalt allenfalls für den Zeitraum berufen kann, der zur Ausräumung solcher Schwierigkeiten erforderlich ist (vgl. idS EuGH ECLI:EU:C:2001:687 = BeckRS 2004, 74002 Rn. 131 mwN – Kommission/Frankreich (C-1/100) und EuGH ECLI:EU:C:2010:115 = NVwZ 2010, 770 Ls. = BeckRS 2010, 90244 Rn. 85 mwN – Kommission/Italien (C-297/08)).

68Aber selbst unterstellt, diese Rechtsprechung könnte dahin verstanden werden, dass die Mitgliedstaaten danach vor ihren nationalen Gerichten wirksam geltend machen könnten, dass die Nichtvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit den Bestimmungen einer Richtlinie wegen höherer Gewalt gerechtfertigt ist, um auf diese Weise zu erreichen, dass die Regelung während des erforderlichen Zeitraums weiter angewandt werden kann, ist festzustellen, dass eine nationale Regelung wie Art. 1 der Rechtsverordnung Nrn. 2020-315 ganz offensichtlich nicht die Voraussetzungen erfüllt, die nach der genannten Rechtsprechung für die Berufung auf höhere Gewalt erfüllt sein müssen.

69Erstens ist eine gesundheitliche Notlage von einem Ausmaß wie die Covid-19-Pandemie zwar vom Willen des betreffenden Mitgliedstaats unabhängig sowie ungewöhnlich und unvorhersehbar. Eine nationale Regelung, die bei Rücktritten, die während eines vorher festgelegten Zeitraums von mehreren Monaten zugehen, generell alle Pauschalreiseveranstalter von ihrer Verpflichtung zur Erstattung gem. Art. 12 II bis IV RL 2015/2302 befreit, kann aber bereits ihrem Wesen nach nicht durch die Zwänge, die sich aus einem solchen Ereignis ergeben, gerechtfertigt sein und damit nicht die Voraussetzungen für die Berufung auf höhere Gewalt erfüllen.

70Indem die Verpflichtung zur Erstattung letztlich generell vorläufig ausgesetzt wird, kommt die Regelung nämlich nicht nur in den Fällen zur Anwendung, in denen solche Zwänge, insbesondere finanzieller Art, tatsächlich bestanden, sondern bei allen Verträgen, von denen während des Referenzzeitraums zurückgetreten worden ist, ohne dass die konkrete individuelle finanzielle Situation der betreffenden Reiseveranstalter berücksichtigt wird.

71Zweitens ist aus den Akten, die dem EuGH vorliegen, nicht ersichtlich, dass die finanziellen Folgen, denen mit dem verfügenden Teil von Art. 1 der Rechtsverordnung Nrn. 2020-315 begegnet werden sollte, nicht anders hätten verhindert werden können als durch einen Verstoß gegen Art. 12 II bis IV RL 2015/2302, etwa durch bestimmte Beihilfemaßnahmen zugunsten der betroffenen Reiseveranstalter, die gem. Art. 107 II Buchst. b AEUV hätten genehmigt werden können – eine Möglichkeit, von der andere Mitgliedstaaten Gebrauch gemacht haben, wie die Generalanwältin in den Rn. 82-84 ihrer Schlussanträge (Medina ECLI:EU:C:2022:690 = BeckRS 2022, 23451) ausgeführt hat.

72Die Regierungen mehrerer Mitgliedstaaten haben nachdrücklich darauf hingewiesen, dass der Erlass solcher Beihilfemaßnahmen für nicht wenige Mitgliedstaaten mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden gewesen wäre. Solche Maßnahmen hätten nur dann kurzfristig erlassen werden können, wenn insbesondere auf bestehende Strukturen des Pauschalreiseveranstalters hätte zurückgegriffen werden können und man die erforderliche Zeit gehabt hätte, um die Maßnahmen gemäß den innerstaatlichen Verfahren zu erlassen. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH kann sich ein Mitgliedstaat aber nicht auf interne Schwierigkeiten berufen, um die Nichteinhaltung der aus dem Unionsrecht folgenden Verpflichtungen zu rechtfertigen (EuGH ECLI:EU:C:2013:423 = BeckRS 2013, 81277 Rn. 48mwN – Kommission/Tschechische Republik (C-241/11) und EuGH ECLI:EU:C:2014:2347 = BeckRS 2014, 82324 Rn. 51 – Kommission/Belgien (C-395/13)).

73Nicht gefolgt werden kann in diesem Zusammenhang auch dem insbesondere von der tschechischen Regierung vorgebrachten Argument, dass die Lösung, die darin bestehe, staatliche Beihilfen zu gewähren, das „letzte Mittel“ sein müsse. Insoweit kann es mit der Feststellung sein Bewenden haben, dass das Unionsrecht es den Mitgliedstaaten, sofern die entsprechenden Voraussetzungen eingehalten werden, gestattet, bestimmte Arten von staatlichen Beihilfen vorzusehen, insbesondere solche, die nach Art. 107 II Buchst. b AEUV als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können, nicht aber, ihrer Verpflichtung, im Rahmen ihrer nationalen Rechtsordnung alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die volle Wirksamkeit der Richtlinie, hier die RL 2015/2302, zu gewährleisten, nicht nachzukommen.

74Weiter ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten auch die Möglichkeit hatten, Regelungen einzuführen, mit denen die Akzeptanz von Gutscheinen anstatt einer Erstattung in Geld nicht vorgeschrieben, sondern gefördert oder erleichtert worden wäre. Auch solche Lösungen hätten dazu beitragen können, die Liquiditätsprobleme der Reiseveranstalter abzufedern, wie es in der Empfehlung 2020/648, insbesondere im 15. Erwgr., heißt.

75Drittens ist eine nationale Regelung wie Art. 1 der Rechtsverordnung Nrn. 2020-31, die vorsieht, dass die Pauschalreiseveranstalter während eines Zeitraums, der ab dem Zugang der „Auflösung“ des betreffenden Pauschalreisebetrags bis zu 21 Monaten dauern kann, von ihrer Verpflichtung zur Erstattung befreit sind, ganz offensichtlich nicht so gestaltet, dass ihre Auswirkungen auf den Zeitraum beschränkt wären, der erforderlich ist, um den Schwierigkeiten zu begegnen, die wegen des Ereignisses, das einen Fall höherer Gewalt darstellen kann, auftreten, wie auch die Generalanwältin in Rn. 80 ihrer Schlussanträge (Medina ECLI:EU:C:2022:690 = BeckRS 2022, 23451) ausgeführt hat.

76Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 12 II bis IV RL 2015/2302 in Verbindung mit deren Art. 4 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Pauschalreiseveranstalter im Kontext des Ausbruchs einer weltweiten gesundheitlichen Notlage, wegen derer Pauschalreiseverträge nicht erfüllt werden können, vorübergehend von ihrer Verpflichtung befreit sind, den Reisenden innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll zu erstatten, und zwar auch dann, wenn die Regelung dazu dient, zu verhindern, dass wegen der hohen Zahl der zu erwartenden Erstattungsforderungen die Liquidität der Reiseveranstalter derart beeinträchtigt wird, dass deren Existenz bedroht ist, und damit dazu, die Lebensfähigkeit der betreffenden Branche zu erhalten.

Zur dritten Frage

77Mit der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, das über eine Klage auf Nichtigerklärung einer nationalen Regelung zu entscheiden hat, die gegen Art. 12 II bis IV RL 2015/2302 verstößt, danach befugt ist, die Wirkungen seiner Entscheidung, mit der die nationale Regelung für nichtig erklärt wird, in zeitlicher Hinsicht anzupassen.

78Die Behörden des betreffenden Mitgliedstaats sind verpflichtet, alle allgemeinen oder besonderen Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet, die Beachtung des Unionsrechts in ihrem Hoheitsgebiet zu sichern (vgl. idS EuGH ECLI:EU:C:2007:373 = EuZW 2007, 643 Rn. 38 – Jonkman ua (C-231/06 ua)).

79Nach stRspr. sind die Mitgliedstaaten nach dem in Art. 4 III EUV vorgesehenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben, wobei diese Pflicht, im Rahmen der jeweiligen Befugnisse, jeder Stelle des betreffenden Mitgliedstaats obliegt, auch den nationalen Gerichten, die über Klagen gegen einen unionsrechtswidrigen nationalen Rechtsakt zu entscheiden haben (vgl. idS EuGH ECLI:EU:C:2019:622 = EuZW 2020, 903 Rn. 170 u. 171 mwN – Inter-Environnement Wallonie und Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen (C-411/17)).

80Danach ist ein nationales Gericht, das über eine Klage auf Nichtigerklärung einer nationalen Regelung zu entscheiden hat, die es für unionsrechtswidrig hält, verpflichtet, die Regelung nach den Verfahrensmodalitäten, die für solche Klagen nach dem innerstaatlichen Recht gelten, unter Beachtung des Äquivalenz- und des Effektivitätsgrundsatzes für nichtig zu erklären.

81Zwar hat der EuGH entschieden, dass die nationalen Gerichte unter außergewöhnlichen Umständen die Wirkung ihrer Entscheidungen über die Nichtigerklärung einer für unionsrechtswidrig erklärten nationalen Regelung anpassen können.

82So hat der EuGH entschieden, dass ein nationales Gericht im Hinblick auf zwingende Erwägungen, die mit dem Umweltschutz oder der Erforderlichkeit zusammenhängen, die tatsächliche und schwerwiegende Gefahr einer Unterbrechung der Stromversorgung des betreffenden Mitgliedstaats zu bannen, im Einzelfall ausnahmsweise zur Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift berechtigt sein kann, die es ihm gestattet, bestimmte Wirkungen eines für nichtig erklärten nationalen Rechtsakts aufrechtzuerhalten, sofern die in der Rechtsprechung des EuGH aufgestellten Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. idS EuGH ECLI:EU:C:2019:622 = EuZW 2020, 903 Rn. 178 u. 179 – Inter-Environnement Wallonie und Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen).

83So schwer die finanziellen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Branche der Pauschalreisen, auf die das vorlegende Gericht in der dritten Frage Bezug nimmt, auch gewesen sein mögen, ist im vorliegenden Fall aber – wie auch die Generalanwältin in Rn. 101 ihrer Schlussanträge (Medina ECLI:EU:C:2022:690 = BeckRS 2022, 23451) ausgeführt hat – festzustellen, dass eine solche Gefährdung der wirtschaftlichen Interessen der in dieser Branche tätigen Wirtschaftsteilnehmer nicht mit den mit dem Umweltschutz oder der Stromversorgung des betreffenden Mitgliedstaats zusammenhängenden zwingenden Erwägungen vergleichbar ist, um die es in der Rechtssache ging, in der das Urteil des EuGH vom 28.2.2012 (EuGH ECLI:EU:C:2012:103 = NVwZ 2012, 553 Rn. 57 – Inter-Environnement Wallonie und Terre wallonne (C-41/11)) ergangen ist.

84Außerdem ist festzustellen, dass die französische Regierung in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen hat, dass der Schaden, der gegebenenfalls durch die Nichtigerklärung der Rechtsverordnung Nrn. 2020-315 durch das vorlegende Gericht entstehen würde, von „begrenztem Umfang“ wäre. Somit ist jedenfalls nicht ersichtlich, dass die Nichtigerklärung der nationalen Regelung, um die es im Ausgangsverfahren geht, auf die Branche der Pauschalreisen so weitreichende schädliche Auswirkungen hätte, dass die Aufrechterhaltung der Wirkungen der Regelung erforderlich wäre, um die finanziellen Interessen der Wirtschaftsteilnehmer dieser Branche zu schützen.

85Auf die dritte Frage ist deshalb zu antworten, dass das Unionsrecht, insbesondere der in Art. 4 III EUV verankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, das über eine Klage auf Nichtigerklärung einer nationalen Regelung zu entscheiden hat, die gegen Art. 12 II bis IV RL 2015/2302 verstößt, danach nicht befugt ist, die Wirkungen seiner Entscheidung, mit der die nationale Regelung für nichtig erklärt wird, in zeitlicher Hinsicht anzupassen.

Anmerkung von Professor Dr. Ernst Führich*

I. Hintergrund

Die staatlichen Beschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben weltweit den Tourismus der Pauschalreise und des Flugverkehrs im Jahr 2020 weitgehend zum Stillstand gebracht und viele Reiseunternehmen an den Rand des Ruins geführt. Sie hatten in der größten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit mit einer bis dahin nicht gekannten Stornierungswelle zu kämpfen. Zur Sicherung der Liquidität und Solvenz ihrer Reiseveranstalter haben daher Mitgliedstaaten in der EU für Pauschalreisen temporäre, obligatorische Gutscheinregelungen eingeführt, obwohl die vollharmonisierende EU-Pauschalreise-RL 2015/2302 (ABl. 2015 L 326, 1) in Art. 12 II und III bei einem Rücktritt zwingend den Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen unverzüglich und in jedem Fall innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags vorsieht (vgl. § 651h IIIIV Nr. 2 S. 2, V BGB; vgl. Führich NJW 2020, 2137 (2140)). Obwohl die Richtlinie die Möglichkeit einer weltweiten Pandemie im Gegensatz zu einer zeitlich und örtlich beschränkten Epidemie nicht berücksichtigt, hielt die EU-Kommission in einer förmlichen Empfehlung vom 13.5.2020 (C 2020 3125) bei einem entschädigungslosen Rücktritt auch im Falle einer Pandemie fest. Sie lehnte einen Zwangsgutschein als Alternative zur Rückerstattung ab und empfahl eine freiwillige Gutscheinlösung wie sie auch der deutsche Gesetzgeber im Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Pauschalreiserecht vom 10.7.2020 (BGBl. 2020 I 1643) vorgesehen hat. Das Europäische Parlament folgte dieser Empfehlung mit Entschließung vom 19.6.2020 (2020/519 RSP Rn. 14). Diesen Anforderungen entsprach aber nicht die Ausnahmeregelung des französischen Rechts, so dass die Kommission am 2.7.2020 gegen 10 Mitgliedstaaten ein Vertragsverletzungsverfahren einleitete (vgl. Führich NJW 2020, 2137 (2141)). Gleichwohl blieb die richtlinienkonforme und rechtsverbindliche Auslegung des Art. 12 der RL gem. Art. 19 I EUV mit der französischen Vorlage des Conseil d´Etat (Staatsrat) dem EuGH vorbehalten.

II. Bewertung

Die den Streit über die Gutscheinlösung klärende Entscheidung des EuGH ist zu begrüßen. Der EuGH bekräftigt, dass für eine Erstattung von Zahlungen des Reisenden ausschließlich eine Geldzahlung zu verstehen ist und einer nationalen Regelungen auch bei einer weltweiten gesundheitlichen Notlage zur Rettung von Reiseveranstaltern und der Tourismusbranchen durch einen temporären Zwangsgutschein entgegensteht. Dem EuGH und dem Schlussantrag der Generalanwältin Medina (ECLI:EU:C:2022:690 = BeckRS 2022, 23451) ist beizupflichten, dass eine obligatorische Befreiung der Reiseveranstalter von der Verpflichtung zur vollständigen Erstattung der Zahlungen für eine Pauschalreise zu einer richtlinienwidrigen Senkung des Verbraucherschutzes der zwingenden Richtlinie führt. Letztlich könnte der Reisende mit einem Zwangsgutschein nicht wieder frei über seine gezahlten Beiträge verfügen, sondern er wäre weiterhin an den Reiseveranstalter gebunden (Löw, Rücktritt des Reisenden vom Pauschalreisevertrag, 2023, S. 181).

Damit erteilt der EuGH allen Stimmen in der Literatur eine Absage, die mit der Pandemielage eine regelwidrige Gesetzeslücke erkennen wollen (Staudinger/Achilles-Pujol, § 7 Reiserecht, in H Schmidt, COVID 19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 3. Aufl. 2021, § 7 Rn. 117 ff.; Staudinger/Achilles-Pujol RRa 2020, 154 (155 ff.); Bergmann/Tonner RRa 2021, 3; Bergmann FS Tonner, 2022, 169 (201 f.)). So befürworten Staudinger/Achilles-Pujol (§ 7 Rn. 128) im Wege einer primärrechtskonformen Auslegung des Art. 12 IV der RL, des Verhältnismäßigkeitsprinzips und den Grundrechten von Unternehmen und Kunden aus Art. 1617 und 38 der GRCh anstelle einer Auszahlungspflicht binnen 14 Tagen einen Zwangsgutschein ohne Zustimmung des Reisenden, wenn eine ausreichende Insolvenzabsicherung in Anlehnung an die Richtlinie besteht. Bergmann sieht ebenfalls eine Gesetzeslücke und spricht sich ebenfalls für eine Überprüfung der Primärrechtskonformität der Richtlinie bei der Anwendung des § 651h BGB durch die Gerichte aus (Tonner/Berg-mann/Blankenburg ReiseR/Bergmann, 2. Aufl. 2022, § 3 Rn. 338) wogegen Tonner keine Notwendigkeit für eine Auslegung sah und dafür plädierte, dass primär der Gesetzgeber bei der Revision der Richtlinie seine Gesetze an die Pandemielage anzupassen habe und die Gerichte bis dahin die geltende Regelung des § 651h BGB anwenden sollten (Bergmann/Tonner RRa 2021, 3 (9); Tonner VuR 2020, 201; MüKoBGB/Tonner, 2021, BGB § 651h Rn. 82a). Keinen Primärrechtsverstoß und folglich einen Erstattungsanspruch in Geld erkannten dagegen die meisten deutschen Gerichte und legten ihre Verfahren wegen fehlender Auslegungsbedürftigkeit daher mit Recht nicht dem EuGH vor (OLG Hamm NJW-RR 2021, 1355; LG Freiburg NJW-RR 2021, 928; LG Frankfurt a. M. 17.11.2020 – 2-24 O 189/20, BeckRS 2020, 37746; LG Frankfurt a. M. 17.12.2020 – 2/24 T 29/20, BeckRS 2020, 39765; RRa 2021, 67 (69) = BeckRS 2021, 311; AG Frankfurt a. M. COVuR 2020, 881 = RRa 2021, 119; AG Leipzig 10.11.2020 – 115 C 4691/20, BeckRS 2020, 41354; LG Hannover RRa 2021, 112 = BeckRS 2021, 14317; LG Kiel 5.11.2020 – 12 O 115/20, BeckRS 2020, 50531; OLG Schleswig RRa 2021, 220= BeckRS 2021, 24247; AG München 18.5.2021 – 172 C 9887/20, BeckRS 2021, 14374; aA LG München I RRa 2021, 272 mit Vorlage).

Auch der Verfasser sieht wegen des klaren Wortlauts und des hohen Schutzniveaus des Verbrauchers der Richtlinie keine Gesetzeslücke, aber auch kein „besonderes außergewöhnliches“ Ereignis, das über die in Art. 5 III der FluggastrechteVO (EG) Nr. 261/2004 bereits genannten „außergewöhnlichen Umstände“ hinausgeht. Ich habe daher für keine Lückenschließung durch eine primärrechtskonforme Auslegung im Sinne eines Zwangsgutscheins plädiert, aber eine für den Reisenden freiwillige und insolvenzsichere Gutscheinlösung vorgeschlagen (Führich NJW 2020, 2137 Rn. 22). De lege lata setzte ich mich für die Einführung einer Pandemieklausel in einer reformierten Richtlinie ein und fordere weiterhin vom Gesetzgeber für den Fall einer künftigen pandemischen Lage im Interesse eines angemessenen Interessenausgleichs das wirtschaftliche Risiko auf beide Parteien des Pauschalreisevertrags zur Hälfte verteilen (Führich, fvw 18/2020, 16).

III. Praxisfolgen

Nachdem der EuGH den Zwangsgutscheinen einiger EU-Staaten eine Absage erteilt hat, haben Kunden von Reiseveranstaltern weiterhin verzugsbegründende Geldansprüche auf Rückzahlung geleisteter Beiträge, soweit noch offene Erstattungsansprüche bestehen. Das gilt für alle Gutschein- oder Umbuchungsangebote. Erfasst wird auch der Rückzahlungsanspruch nach § 651h V BGB, wenn der Reisende einen Gutschein im Rahmen des durch das Gutscheingesetz vom 10.7.2020 eingefügten Art. 240 § 6 EGBGB für seine vor dem 8.3.2020 geschlossenen Pauschalreiseverträge nicht eingelöst hat. Nach Art. 240 § 6 IVV EGBGB verlor dieser freiwillige Gutschein spätestens am 31.12.2021 seine Gültigkeit, so dass er vom Reiseveranstalter bis zum 14.1.2022 bei Nichteinlösung in Geld zurückzuzahlen war. Während der Laufzeit des Gutscheins war der Rückzahlungsanspruch lediglich vorübergehend iSd § 364 II BGB aufgeschoben, so dass der Reisende nach Ende des Gültigkeitszeitraums seinen ursprünglichen Erstattungsanspruch geltend machen kann (MüKoBGB/Tonner EGBGB Art. 240 § 6 Rn. 9). Auch wenn der Veranstalter für nach dem 8.3.2020 geschlossene Verträge und damit außerhalb des Anwendungsbereichs des Gutscheingesetzes ein Wahlrecht zwischen Umbuchung, Gutschein oder Erstattung angeboten hat, besteht weiterhin im Rahmen der gesetzlichen Verjährung von drei Jahren der gesetzliche Erstattungsanspruch nach § 651h V BGB (RegE, BT-Drs. 19/19581, 9). Dieser Rückzahlungsanspruch ist nach § 651y BGB zwingend und kann nicht durch Vereinbarungen vertraglich geändert werden.

Der Autor ist Prof. em. für Reiserecht und Hrsg. des Handbuchs Führich/Staudinger, Reiserecht, 9. Aufl. 2024.

Quelle: Europäische Zeitschrift Wirtschaftsrecht EuZW 2023, 709

Parallelfundstellen

Entscheidungen: BeckRS 2023,  12777   COVuR 2023,  180   ReiseRFD 2023,  149   EWS 2023,  238   BeckEuRS 2023,  761936   LSK 2023,  12777 (Ls.) MDR 2023, 964   RRa 2023, 183

Entscheidungsbesprechung: ReiseRFD 2023,  142 (Dr. Stefanie Bergmann)