In diesem Urteil stellt der EuGH fest, dass sich die Mitgliedstaaten nicht auf höhere Gewalt berufen können, um die Pauschalreiseveranstalter – auch nur vorübergehend – von der in der Pauschalreiserichtlinie vorgesehenen Verpflichtung zur Erstattung in Geld durch einen Zwangsgutschein zu befreien.

Anmerkung Prof. Führich

Die staatlichen Beschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben weltweit den Tourismus der Pauschalreise und des Flugverkehrs im Jahr 2020 weitgehend zum Stillstand gebracht und viele Reiseunternehmen an den Rand des Ruins geführt. Sie hatten in der größten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit mit einer bis dahin nicht gekannten Stornierungswelle zu kämpfen. Zur Sicherung der Liquidität und Solvenz ihrer Reiseveranstalter haben daher Mitgliedstaaten in der EU für Pauschalreisen temporäre, obligatorische Gutscheinregelungen eingeführt, obwohl die vollharmonisierende EU-Pauschalreise-RL 2015/2302 (ABl. 2015 L 326, 1) in Art. 12 II und III bei einem Rücktritt zwingend den Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen unverzüglich und in jedem Fall innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags vorsieht (vgl. § 651hIII, IV Nr. 2 S. 2, V BGB; vgl. Führich NJW 2020, 2137 (2140)). Obwohl die Richtlinie die Möglichkeit einer weltweiten Pandemie im Gegensatz zu einer zeitlich und örtlich beschränkten Epidemie nicht berücksichtigt, hielt die EU-Kommission in einer förmlichen Empfehlung vom 13.5.2020 (C 2020 3125) bei einem entschädigungslosen Rücktritt auch im Falle einer Pandemie fest. Sie lehnte einen Zwangsgutschein als Alternative zur Rückerstattung ab und empfahl eine freiwillige Gutscheinlösung wie sie auch der deutsche Gesetzgeber im Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Pauschalreiserecht vom 10.7.2020 (BGBl. 2020 I 1643) vorgesehen hat. Das Europäische Parlament folgte dieser Empfehlung mit Entschließung vom 19.6.2020 (2020/519 RSP Rn. 14). Diesen Anforderungen entsprach aber nicht die Ausnahmeregelung des französischen Rechts, so dass die Kommission am 2.7.2020 gegen 10 Mitgliedstaaten ein Vertragsverletzungsverfahren einleitete (vgl. Führich NJW 2020, 2137 (2141)). Gleichwohl blieb die richtlinienkonforme und rechtsverbindliche Auslegung des Art. 12 der RL gem. Art. 19 I EUV mit der französischen Vorlage des Conseil d´Etat (Staatsrat) dem EuGH vorbehalten.

II. Bewertung

Die den Streit über die Gutscheinlösung klärende Entscheidung des EuGH ist zu begrüßen. Der EuGH bekräftigt, dass für eine Erstattung von Zahlungen des Reisenden ausschließlich eine Geldzahlung zu verstehen ist und einer nationalen Regelungen auch bei einer weltweiten gesundheitlichen Notlage zur Rettung von Reiseveranstaltern und der Tourismusbranchen durch einen temporären Zwangsgutschein entgegensteht. Dem EuGH und dem Schlussantrag der Generalanwältin Medina (ECLI:EU:C:2022:690 = BeckRS 2022, 23451) ist beizupflichten, dass eine obligatorische Befreiung der Reiseveranstalter von der Verpflichtung zur vollständigen Erstattung der Zahlungen für eine Pauschalreise zu einer richtlinienwidrigen Senkung des Verbraucherschutzes der zwingenden Richtlinie führt. Letztlich könnte der Reisende mit einem Zwangsgutschein nicht wieder frei über seine gezahlten Beiträge verfügen, sondern er wäre weiterhin an den Reiseveranstalter gebunden (Löw, Rücktritt des Reisenden vom Pauschalreisevertrag, 2023, S. 181).

Damit erteilt der EuGH allen Stimmen in der Literatur eine Absage, die mit der Pandemielage eine regelwidrige Gesetzeslücke erkennen wollen (Staudinger/Achilles-Pujol, § 7Reiserecht, in H Schmidt, COVID 19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 3. Aufl. 2021, § 7 Rn. 117 ff.; Staudinger/Achilles-Pujol RRa 2020, 154 (155ff.); Bergmann/Tonner RRa 2021, 3; Bergmann FS Tonner, 2022, 169 (201 f.)). So befürworten Staudinger/Achilles-Pujol (§ 7 Rn. 128) im Wege einer primärrechtskonformen Auslegung des Art. 12IV der RL, des Verhältnismäßigkeitsprinzips und den Grundrechten von Unternehmen und Kunden aus Art. 16, 17 und 38 der GRCh anstelle einer Auszahlungspflicht binnen 14 Tagen einen Zwangsgutschein ohne Zustimmung des Reisenden, wenn eine ausreichende Insolvenzabsicherung in Anlehnung an die Richtlinie besteht. Bergmann sieht ebenfalls eine Gesetzeslücke und spricht sich ebenfalls für eine Überprüfung der Primärrechtskonformität der Richtlinie bei der Anwendung des § 651h BGB durch die Gerichte aus (Tonner/Bergmann/Blankenburg ReiseR/Bergmann, 2. Aufl. 2022, § 3 Rn. 338) wogegen Tonner keine Notwendigkeit für eine Auslegung sah und dafür plädierte, dass primär der Gesetzgeber bei der Revision der Richtlinie seine Gesetze an die Pandemielage anzupassen habe und die Gerichte bis dahin die geltende Regelung des § 651h BGB anwenden sollten (Bergmann/Tonner RRa 2021, 3 (9); Tonner VuR 2020, 201; MüKoBGB/Tonner, 2021, BGB § 651h Rn. 82a). Keinen Primärrechtsverstoß und folglich einen Erstattungsanspruch in Geld erkannten dagegen die meisten deutschen Gerichte und legten ihre Verfahren wegen fehlender Auslegungsbedürftigkeit daher mit Recht nicht dem EuGH vor (OLG Hamm NJW-RR 2021, 1355; LG Freiburg NJW-RR 2021, 928; LG Frankfurt a. M.17.11.2020 – 2-24 O 189/20, BeckRS 2020, 37746; LG Frankfurt a. M. 17.12.2020 – 2/24T 29/20, BeckRS 2020, 39765; RRa 2021, 67(69) = BeckRS 2021, 311; AG Frankfurt a. M. COVuR 2020, 881 = RRa 2021, 119; AG Leipzig 10.11.2020 – 115 C 4691/20, BeckRS 2020, 41354; LG Hannover RRa 2021, 112 = BeckRS 2021, 14317; LG Kiel5.11.2020 – 12 O 115/20, BeckRS 2020, 50531; OLG Schleswig RRa 2021, 220 = BeckRS 2021, 24247; AG München18.5.2021 – 172 C 9887/20, BeckRS 2021, 14374; aA LG München I RRa 2021, 272 mit Vorlage).

Auch der Verfasser sieht wegen des klaren Wortlauts und des hohen Schutzniveaus des Verbrauchers der Richtlinie keine Gesetzeslücke, aber auch kein „besonderes außergewöhnliches“ Ereignis, das über die in Art. 5III der FluggastrechteVO (EG) Nr. 261/2004 bereits genannten „außergewöhnlichen Umstände“ hinausgeht. Ich habe daher für keine Lückenschließung durch eine primärrechtskonforme Auslegung im Sinne eines Zwangsgutscheins plädiert, aber eine für den Reisenden freiwillige und insolvenzsichere Gutscheinlösung vorgeschlagen (Führich NJW 2020, 2137 Rn. 22). De lege lata setzte ich mich für die Einführung einer Pandemieklausel in einer reformierten Richtlinie ein und fordere weiterhin vom Gesetzgeber für den Fall einer künftigen pandemischen Lage im Interesse eines angemessenen Interessenausgleichs das wirtschaftliche Risiko auf beide Parteien des Pauschalreisevertrags zur Hälfte verteilen (Führich, fvw 18/2020, 16).

III. Praxisfolgen

Nachdem der EuGH den Zwangsgutscheinen einiger EU-Staaten eine Absage erteilt hat, haben Kunden von Reiseveranstaltern weiterhin verzugsbegründende Geldansprüche auf Rückzahlung geleisteter Beiträge, soweit noch offene Erstattungsansprüche bestehen. Das gilt für alle Gutschein- oder Umbuchungsangebote. Erfasst wird auch der Rückzahlungsanspruch nach § 651h V BGB, wenn der Reisende einen Gutschein im Rahmen des durch das Gutscheingesetz vom 10.7.2020 eingefügten Art. 240 § 6 EGBGBfür seine vor dem 8.3.2020 geschlossenen Pauschalreiseverträge nicht eingelöst hat. Nach Art. 240 § 6 IV, V EGBGB verlor dieser freiwillige Gutschein spätestens am 31.12.2021 seine Gültigkeit, so dass er vom Reiseveranstalter bis zum 14.1.2022 bei Nichteinlösung in Geld zurückzuzahlen war. Während der Laufzeit des Gutscheins war der Rückzahlungsanspruch lediglich vorübergehend iSd § 364 II BGB aufgeschoben, so dass der Reisende nach Ende des Gültigkeitszeitraums seinen ursprünglichen Erstattungsanspruch geltend machen kann (MüKoBGB/Tonner EGBGB Art. 240 § 6 Rn. 9). Auch wenn der Veranstalter für nach dem 8.3.2020 geschlossene Verträge und damit außerhalb des Anwendungsbereichs des Gutscheingesetzes ein Wahlrecht zwischen Umbuchung, Gutschein oder Erstattung angeboten hat, besteht weiterhin im Rahmen der gesetzlichen Verjährung von drei Jahren der gesetzliche Erstattungsanspruch nach § 651hV BGB (RegE, BT-Drs. 19/19581, 9). Dieser Rückzahlungsanspruch ist nach § 651y BGBzwingend und kann nicht durch Vereinbarungen vertraglich geändert werden.


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