Schafft es ein Luftverkehrsunternehmen über mehrere Wochen hinweg nicht, das Gepäck der Passagiere auf einer bestimmten Linienverbindung in ein entferntes und weniger entwickeltes Land zuverlässig zeitgleich zu befördern, muss es Kunden, die diese Flugverbindung sodann buchen möchten, darauf hinweisen, dass sie vor Ort möglicherweise für mehrere Tage ohne ihr Gepäck auskommen müssen.
OLG Celle Urt. v. 20.10.2022 – 11 U 9/22
Vorinstanz:
LG Hannover – 7 O 50/20
Aus den Gründen:
… Die wesentliche tatbestandliche Voraussetzung einer Haftung aus § 311 Abs. 2, § 280 Abs. 1 BGB ist die Verletzung einer Aufklärungs- und Hinweispflicht durch die Beklagte. Eine solche Verletzung haben die Kläger schlüssig dargelegt. Die Beklagte hat die dazu vorgetragenen Tatsachen bislang nicht mit der nötigen Substanz bestritten. … die Beklagte [dürfte] verpflichtet gewesen sein, den Klägern … bei der Buchung einen Hinweis zu erteilen, wenn ihr zum damaligen Zeitpunkt bekannt war (oder sein musste), dass die gleich- oder rechtzeitige Beförderung des Reisegepäcks der von I. nach M. reisenden Passagiere mit einiger Wahrscheinlichkeit in Frage stand. Insbesondere bei einer privaten Fernreise in ein nach europäischen Maßstäben weniger entwickeltes Land liegt für jeden objektiven Beobachter auf der Hand, dass die Flugreisenden ein ausgeprägtes Interesse daran haben, am Bestimmungsort sogleich bei Ankunft – oder doch zumindest binnen weniger Stunden – ihr Reisegepäck entgegennehmen zu können, weil andernfalls gerade diejenigen erheblichen Schwierigkeiten drohen, die die Kläger im Streitfall vorgetragen haben. Es dürfte sogar eine tatsächliche Vermutung begründet sein, dass ein Fernreisender, der ein Land bereisen möchte, in dem die äquivalente Ersatzbeschaffung von Kleidung und sonstiger persönlicher Ausstattung absehbar nicht oder nur mit erheblichem Aufwand möglich sein wird, von der Reise Abstand nimmt, wenn er vor Reiseantritt Kenntnis davon erlangt, dass er sein Reisegepäck womöglich erst nach der Hälfte der Reisezeit erhalten wird. Die Kläger haben … behauptet, die Beklagte habe regelmäßig … auf der Strecke nach M. ‚aus logistischen und finanziellen Gründen‛ nur Mittelstreckenflugzeuge eingesetzt, in denen das Gepäck der Passagiere wegen der Streckenlänge von vornherein nicht habe transportiert werden können. Die Beklagte hat diese Behauptung … lediglich einfach bestritten. … die Kläger [haben] einen Sachverhalt dargelegt, aus dem sich ergibt, dass die Beklagte im Zeitpunkt der Buchung … wusste, dass sie Schwierigkeiten haben würde, ein Flugzeug einzusetzen, das bei voller Beladung (mit Passagieren und deren Gepäck) in M. laden können würde. …
Die Rechtsfolge einer Haftung aus § 311 Abs. 2, § 280 Abs. 1 BGB geht dahin, dass der Anspruchsinhaber so zu stellen ist, als wäre er vor Vertragsschluss aufgeklärt worden. Zu seinen Gunsten besteht zunächst die sog. Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens (vgl. etwa BGH, Urt. v. 16.3.2017 – III ZR 489/16, juris Rz. 32 m.w.N. = MDR 2017, 643). Es wird also vermutet, dass der Geschädigte sich bei ordnungsgemäßer Aufklärung rational verhalten hätte. Im Streitfall führt das … zu der Annahme, dass die Kläger einen Vertrag zur Personenbeförderung nach M. nicht mit der Beklagten geschlossen hätten. Die Beklagte hätte sie, ihre Haftung dem Grunde nach unterstellt, daher so zu stellen, als wären die Beförderungsverträge nicht geschlossen worden (vgl. etwa Emmerichin MünchKomm/BGB, 9. Aufl., § 311 Rz. 232 ff. m.w.N.). Die Kläger hätten dann den Flugpreis nicht an die Beklagte entrichten müssen. Dessen Rückerstattung ist das Ziel der Berufung. Da der Beförderungsvertrag allerdings beidseitig bereits – wenn auch zunächst unvollständig – erfüllt worden ist, müssten die Kläger ihrerseits den Wert der von der Beklagten empfangenen Beförderungsleistungen zurückgewähren. Dieser Wert wird – anders, als es sich die Kläger offenbar vorstellen – keinesfalls mit Null anzusetzen sein. Das ergibt sich allein daraus, dass der zweite Teil der von der Beklagten geschuldeten Leistung, nämlich die Beförderung von M. nach H., nach Aktenlage vollständig frei von Beanstandungen war. Allein deshalb müssen die sich Kläger mindestens die Hälfte des Flugpreises anrechnen lassen. Der Wert der Beförderung von H. nach M. wird hingegen zwar nicht mit dem vollen darauf entfallenden Teil des Flugpreises anzurechnen sein. Zur Personenbeförderung – zumal auf Fernstrecken – gehört die zeitgleiche oder doch sehr zeitnahe Beförderung des Reisegepäcks zwingend dazu (vgl. BGH, Urt. v. 15.3.2011 – X ZR 99/10, juris Rz. 12 = MDR 2011, 589). Unterbleibt sie oder verzögert sie sich – wie im Streitfall – um mehrere Tage, hat die Beförderungsleistung einen geringeren Wert, weil sie unvollständig ist. Dem Senat ist nicht bekannt, dass es – jedenfalls für Fernstrecken – einen eigenen Markt für Personenbeförderungen per Flugzeuge ohne Gepäckbeförderung gibt. Wenn die Parteien dazu auch künftig nichts vortragen sollten, fehlte es folglich an konkreten Anhaltspunkten für eine Bestimmung des Wertes der Hinflüge. Der Senat könnte dann nur eine grobe Schätzung gem. § 287 Abs. 2 ZPO vornehmen. Als tatsächlicher Anhaltspunkt für eine Schätzung käme womöglich das Verhältnis des ohne Mehrkosten zulässigen Höchstgewichts des Reisegepäcks zum durchschnittlichen Gewicht eines erwachsenen Flugpassagiers in Betracht.
Allerdings muss der Senat auch in den Blick nehmen, dass in seinem Urteil der BGH v. 15.3.2011, a.a.O. die Beförderung des Gepäcks ausdrücklich als Hauptleistungspflicht des Luftverkehrsunternehmens bezeichnet hat. Die Hauptleistungspflicht könnte – für sich genommen – durchaus in dem Sinne als absolutes Fixgeschäft anzusehen sein, dass sie – jedenfalls auf der Fernstrecke – zwingend zeitgleich (oder allenfalls mit wenigen Stunden Verzögerung) mit der Beförderung des Fluggastes erfolgen muss, weil der Fluggast an der Beförderung seiner eigenen Person nur insoweit ein Interesse an, als er am Zielort zügig auf sein persönliches Gepäck zugreifen kann. Dann hätte die um eine Woche verzögerte Gepäckbeförderung hier keine Erfüllungswirkung mehr gehabt. Da dann hinsichtlich einer der beiden Hauptleistungspflichten der Beklagten (auf dem Hinflug) eine endgültige Nichterfüllung vorläge, ließe sich auch vertreten, die Gesamtleistung (nochmals: lediglich bezüglich des Hinflugs) als wertlos anzusehen. Die Erwartung der Kläger, einen Anspruch auf die volle Rückerstattung des gesamten Flugpreises (ohne jede Anrechnung von Vorteilen) zu haben, dürfte demgegenüber (nach wie vor) zu sehr von der Vorstellung beeinflusst sein, dass die Beklagte auch für die immateriellen Belastungen einzustehen habe, die für die Kläger daraus MDR 2023, 284entstanden, dass sie am Zielort zunächst ohne ihr Reisegepäck auskommen mussten. Das deutsche Recht sieht eine Entschädigung für solche Nachteile aber grundsätzlich nicht vor (vgl. § 253 Abs. 1 BGB). Das lässt sich ggf. rechtspolitisch kritisieren. Der Senat ist an diese Rechtslage indes gebunden. Eine Entschädigung stünde den Klägern für derartige Erschwernisse gem. § 651n Abs. 2 BGB nur dann zu, wenn sie eine Pauschalreise gebucht gehabt hätten. Da sie indes ‚nur‛ Personenbeförderungsverträge geschlossen hatten, hatten sie gegen die Beklagte lediglich einen Anspruch auf ordnungsgemäße Beförderung. Für die Beschaffenheit der Aufenthaltszeit am Zielort hat die Beklagte hingegen im Ergebnis nicht einzustehen. …

