RL (EU) 2015/2302 (Pauschalreise-RL) Art. 12 II

Art. 12 II RL (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.11.2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der VO (EG) Nr. 2006/2004 und der RL 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der RL 90/314/EWG des Rates ist dahin auszulegen, dass für die Feststellung, ob „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ aufgetreten sind, die iSd Bestimmung „die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“, nur die Situation zu berücksichtigen ist, die zu dem Zeitpunkt bestand, zu dem der Reisende vom Reisevertrag zurückgetreten ist.

EuGH (Zweite Kammer) Urteil vom 29.2.2024 – C-584/22 (QM/Kiwi Tours GmbH); RRa 2024, 62 = BeckRs 2024, 2994 = EuZW 2024, 436 mit Anmerkung Ernst Führich

Der EuGH hatte sich mit den Anforderungen an das Rücktrittsrecht vom Pauschalreisevertrag auseinandergesetzt, nachdem ein Reisender wegen des Gesundheitsrisikos ausgehend von der Covid-19-Pandemie von seinem Pauschalreisevertrag gegen Zahlung einer Rücktrittsgebühr zurückgetreten war. Der EuGH entschied unter Auslegung der Pauschalreise-RL, dass für die Beurteilung, ob außergewöhnliche Umstände vorliegen, die einen kostenlosen Rücktritt ermöglichen, nur der Rücktrittszeitpunkt entscheidend ist. Unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände, die nach dem Rücktritt, aber vor dem geplanten Beginn der Reise tatsächlich auftreten, sind nicht zu berücksichtigen.

Zum Sachverhalt:

Das Urteil betrifft die Auslegung von Art. 12 II RL (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.11.2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der VO (EG) Nr. 2006/2004 und der RL 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der RL 90/314/EWG des Rates (ABl. 2015 L 326, 1; im Folgenden: RL 2015/2302). Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen QM und der Kiwi Tours GmbH über den Anspruch auf volle Erstattung aller vom betreffenden Reisenden im Rahmen seines Pauschalreisevertrags getätigten Zahlungen, einschließlich der ihm auferlegten Rücktrittsgebühr, nachdem der Reisende wegen des Gesundheitsrisikos im Zusammenhang mit der Ausbreitung von Covid-19 vom Vertrag zurückgetreten war.

QM buchte im Januar 2020 für sich und seine Ehefrau bei Kiwi Tours eine Pauschalreise nach Japan, die vom 3. bis zum 12.4.2020 stattfinden sollte. Der Gesamtpreis dieser Pauschalreise betrug 6.148 EUR; hierauf leistete QM eine Anzahlung von 1.230 EUR.

Nachdem von den japanischen Behörden eine Reihe von Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19 ergriffen worden waren, trat QM mit Schreiben vom 1.3.2020 wegen der von Covid-19 ausgehenden Gesundheitsgefährdung vom Pauschalreisevertrag zurück. Kiwi Tours stellte als Rücktrittsgebühr weitere 307 EUR in Rechnung, die QM bezahlte.

Am 26.3.2020 erließ Japan ein Einreiseverbot. QM forderte daraufhin von Kiwi Tours die Erstattung der Rücktrittsgebühr, was diese ablehnte.

Das mit der Erstattungsklage von QM befasste AG verurteilte Kiwi Tours zur vollen Erstattung der Rücktrittsgebühr. Das mit der von Kiwi Tours eingelegten Berufung befasste LG wies die Erstattungsklage mit der Begründung ab, dass man zum Zeitpunkt des Rücktritts von dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Pauschalreisevertrag nicht vom Vorliegen „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ iSv § 651h  III BGB habe ausgehen können. QM sei daher nicht berechtigt gewesen, von diesem Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr zurückzutreten.

Der mit der von QM eingelegten Revision befasste BGH als vorlegendes Gericht weist darauf hin, dass das LG in der Berufungsinstanz zu Recht davon ausgegangen sei, dass die in § 651h III BGB – durch den Art. 12 RL 2015/2302 in innerstaatliches Recht umgesetzt worden sei – enthaltenen Voraussetzungen für das Recht, von einem Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr zurückzutreten, u. a. dann erfüllt seien, wenn eine Reise gemäß einer vor deren Beginn abgegebenen „Prognose“ mit einer erheblichen Gefährdung der Gesundheit des Reisenden verbunden wäre. Das Bestehen einer solchen Gefährdung habe das LG im vorliegenden Fall jedoch rechtsfehlerhaft beurteilt. So sei nicht auszuschließen, dass das LG bei zutreffender Beurteilung dieser Gefährdung zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass eine Reise nach Japan bereits zum Zeitpunkt des Rücktritts von dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Reisevertrag mit einer ernsthaften und gravierenden Gefährdung der Gesundheit der Reisenden verbunden gewesen sei.

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es dann nach deutschem Verfahrensrecht grundsätzlich die Rechtssache zur Entscheidung über diese Frage an das LG zurückverweisen müsste. Es könnte jedoch selbst über die gegen das Urteil des AG eingelegte Berufung entscheiden und diese zurückweisen, wenn für die Beurteilung des Bestehens des Rechts von QM auf Rücktritt von dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Reisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr auch Umstände von Bedeutung seien, die erst nach dem Rücktritt vom Reisevertrag aufgetreten seien. Es sei nämlich unstreitig, dass die Durchführung der Reise letztlich nicht möglich gewesen sei, weil die japanischen Behörden angesichts der Ausbreitung von Covid-19 am 26.3.2020 ein Einreiseverbot erlassen hätten.

Insoweit neigt das vorlegende Gericht zu der Auffassung, dass nach Art. 12 II RL 2015/2302 auch Umstände zu berücksichtigen seien, die erst nach dem Rücktritt vom betreffenden Pauschalreisevertrag aufgetreten seien.

Zunächst sehe Art. 12 II dieser Richtlinie zwar formal einen anderen Rücktrittstatbestand vor als Abs. 1 dieses Artikels, jedoch sei eine solche Unterscheidung der Sache nach nur für die Bestimmung der Rechtsfolgen des betreffenden Rücktritts von Bedeutung, da Art. 12 II abweichend von Abs. 1 dieses Artikels vorsehe, dass kein Anspruch auf Zahlung einer Rücktrittsgebühr bestehe. Diese Rechtsfolgen hingen nach Art. 12 II nicht davon ab, auf welche Gründe der Reisende den Rücktritt gestützt habe, sondern allein davon, ob tatsächlich Umstände vorlägen, die die Durchführung der Reise erheblich beeinträchtigten. Sodann werde eine solche Auslegung durch den Zweck der Zahlung einer Rücktrittsgebühr bestätigt, unabhängig davon, ob diese Gebühr als eine „dem Schadensersatz ähnliche Leistung“ oder als „Surrogat für den Reisepreis“ anzusehen sei. Sollte sich nämlich nach dem Rücktritt vom geschlossenen Pauschalreisevertrag herausstellen, dass die Durchführung der Reise beeinträchtigt sei und der Reiseveranstalter deshalb jedenfalls, also auch ohne den Rücktritt des Reisenden, zur vollen Erstattung des Reisepreises verpflichtet gewesen wäre, läge weder ein durch diesen Rücktritt verursachter Schaden noch ein Anspruch auf Zahlung eines Surrogats für den Reisepreis vor, da ein solcher Anspruch nur insoweit begründet wäre, als der Reiseveranstalter ohne den Rücktritt Anspruch auf Zahlung des Reisepreises gehabt hätte.

Schließlich sprächen auch Erwägungen des Verbraucherschutzes dafür, Umstände zu berücksichtigen, die erst nach dem Rücktritt vom betreffenden Pauschalreisevertrag aufgetreten seien. Ein hohes Niveau des Schutzes von Reisenden erfordert nach Auffassung des vorlegenden Gerichts, dass Reisende auch bei einem frühzeitigen Rücktritt vom Reisevertrag keine Zahlungen für eine Reise zu erbringen hätten, deren Durchführung sich im weiteren Verlauf als beeinträchtigt erweise. In Situationen der Ungewissheit könnten Reisende nämlich davon abgehalten werden, frühzeitig von dem ihnen zustehenden Recht auf Rücktritt ohne Zahlung einer Gebühr Gebrauch zu machen. Eine solche Möglichkeit eines Rücktritts ohne Zahlung einer Gebühr führe im Übrigen nicht dazu, dass der Reisende auf die Fortdauer einer sich abzeichnenden Krise spekulieren könnte. Würde man hingegen dieses Recht auf Rücktritt ohne Zahlung einer Gebühr vom Zeitpunkt des Rücktritts abhängig machen, so bestünde gerade ein Anreiz zu spekulativem Verhalten, insbes. beim betreffenden Veranstalter, der sich veranlasst sehen könnte, von einer Absage der Reise bis kurz vor Reisebeginn abzusehen und sich damit die Möglichkeit offenzuhalten, dass nach Ansicht des vorlegenden Gerichts werden die vorstehenden Gründe durch die in Art. 12 IV RL 2015/2302 vorgesehene maximale Erstattungsfrist von 14 Tagen nach dem Rücktritt nicht infrage gestellt. Aus dieser Bestimmung könne nämlich nicht abgeleitet werden, dass die Höhe der Rücktrittsgebühr spätestens bei Ablauf dieser Frist abschließend geklärt sein müsse. Ebenso wenig seien die Abs. 1 und 2 von Art. 12 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass sie eine Regel bzw. eine Ausnahme vorsähen, da diese Absätze vielmehr einem angemessenen Ausgleich zwischen dem berechtigten Vergütungsinteresse des Reiseveranstalters und dem Ziel eines hohen Verbraucherschutzniveaus dienten. Vor diesem Hintergrund hat der BGH das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH seine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt (BGH 2.8.2022 – X ZR 53/21, BeckRS 2022, 21810).

Der EuGH hat nach Anhörung der Generalanwältin Medina (ECLI:EU:C:2023:698 = BeckRS 2023, 25122) wie aus dem Tenor ersichtlich entschieden.

Aus den Gründen:

Zur Vorlagefrage

22Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 12 II RL 2015/2302 dahin auszulegen ist, dass für die Feststellung, ob „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ aufgetreten sind, die iSd Bestimmung „die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“, nur die Situation zu berücksichtigen ist, die zu dem Zeitpunkt bestand, zu dem der Reisende vom Reisevertrag zurückgetreten ist, oder auch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände, die nach diesem Zeitpunkt, aber vor Beginn der betreffenden Pauschalreise auftreten.

23In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass ein Reisender nach Art. 12 II RL 2015/2302 das Recht hat, vor Beginn einer Pauschalreise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr und damit unter voller Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, „wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“.

24Der Begriff „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ iSv Art. 12 II RL 2015/2302 wird in Art. 3 Nr. 12 dieser Richtlinie definiert als „Situation außerhalb der Kontrolle der Partei, die eine solche Situation geltend macht, deren Folgen sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären“.

25Im 31. Erwgr. der Richtlinie wird der Anwendungsbereich dieses Begriffs dahin erläutert, dass er „zum Beispiel Kriegshandlungen, andere schwerwiegende Beeinträchtigungen der Sicherheit wie Terrorismus, erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit wie einen Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel oder Naturkatastrophen wie Hochwasser oder Erdbeben oder Witterungsverhältnisse, die eine sichere Reise an das im Pauschalreisevertrag vereinbarte Reiseziel unmöglich machen, umfassen (kann)“.

26Als Erstes lässt sich dem Wortlaut von Art. 12 II RL 2015/2302 entnehmen, dass das Recht, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, „vor Beginn der Pauschalreise“ ausgeübt werden muss.

27Die für die Ausübung dieses Rechts bestehende Voraussetzung, dass „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“, muss zwangsläufig zum Zeitpunkt eines solchen Rücktritts, also „vor Beginn der Pauschalreise“, erfüllt sein.

28Daher ist für die Beurteilung, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, in zeitlicher Hinsicht auf den Zeitpunkt des Rücktritts vom betreffenden Pauschalreisevertrag abzustellen.

29Folglich ist zum einen diese Voraussetzung, soweit sie das Vorliegen „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ verlangt, als erfüllt anzusehen, wenn solche Umstände zum Zeitpunkt des Rücktritts vom betreffenden Pauschalreisevertrag tatsächlich aufgetreten sind, was bedeutet, dass zu diesem Zeitpunkt eine Situation vorliegen muss, die der Definition des Begriffs „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ – wie sie in Art. 3 Nr. 12 RL 2015/2302 enthalten ist und im 31. Erwgr. dieser Richtlinie veranschaulicht wird – entspricht.

30Zum anderen sind diese Umstände, soweit sie „die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“ müssen, zwangsläufig vorausschauend zu beurteilen, da sich die Beeinträchtigung endgültig erst zu dem Zeitpunkt zeigt, der für die Durchführung der betreffenden Pauschalreise vorgesehen ist.

31Daraus folgt, dass sich diese Beurteilung hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, dass die unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände, auf die sich der betreffende Reisende beruft, iSv Art. 12 II RL 2015/2302 „die Durchführung der Pauschalreise … erheblich beeinträchtigen“ werden, auf eine Prognose stützen muss.

32Im Übrigen ist für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit und der Erheblichkeit dieser Beeinträchtigung aus der Sicht eines normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsreisenden zu prüfen, ob ein solcher Reisender vernünftigerweise annehmen konnte, dass die unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände, auf die er sich beruft, die Durchführung seiner Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort wahrscheinlich erheblich beeinträchtigen würden (vgl. idS EuGH ECLI:EU:C:2024:181 Rn. 71 = BeckRS 2024, 3024 – Tez Tour (C-299/22)).

33Was als Zweites die Auswirkungen betrifft, die in diesem Zusammenhang „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ iSv Art. 12 II RL 2015/2302 haben könnten, die nach dem Rücktritt vom Vertrag auftreten, ist festzustellen, dass solche Umstände nicht berücksichtigt werden können.

34Insoweit kann erstens – anders als das vorlegende Gericht offenbar meint – das in Art. 12 II RL 2015/2302 vorgesehene Recht, von einem Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr zurückzutreten, nicht sowohl von der Situation zum Zeitpunkt des Rücktritts von diesem Vertrag als auch – davon losgelöst – von der Situation abhängen, die zu einem Zeitpunkt nach diesem Rücktritt und vor Beginn der Pauschalreise bestand.

35Die Berücksichtigung der Situation zu diesen verschiedenen Zeitpunkten könnte nämlich zu widersprüchlichen bzw. unvereinbaren Ergebnissen führen. Nach einem solchen Ansatz könnte das Recht, von einem Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Gebühr zurückzutreten, zunächst vom betreffenden Reisenden zum Zeitpunkt des Rücktritts vom betreffenden Vertrag erworben werden und danach wegen später eingetretener Ereignisse rückwirkend hinfällig werden. Umgekehrt könnte – wie auch die Generalanwältin in Rn. 44 ihrer Schlussanträge (Medina ECLI:EU:C:2023:698 = BeckRS 2023, 25122) ausgeführt hat – dieses Recht dem Reisenden zum Zeitpunkt des Rücktritts zunächst verweigert werden und ihm dann aufgrund solcher Ereignisse zuerkannt werden.

36Im Übrigen untermauert der Kontext von Art. 12 II RL 2015/2302 die oben in Rn. 33 erwähnte Auslegung dieser Bestimmung, da das Zusammenspiel zwischen Art. 12 II und Art. 12 I der Richtlinie die Inkohärenz einer Lösung wie der in der vorstehenden Rn. genannten bestätigt. Denn auch wenn diese beiden Bestimmungen dem Reisenden zwei verschiedene Rücktrittsrechte verleihen, könnte ein und derselbe Rücktritt vom betreffenden Pauschalreisevertrag je nachdem, wie sich die Situation nach dem Rücktritt vom Pauschalreisevertrag entwickelt, entweder unter die erste oder unter die zweite Bestimmung fallen.

37Daher ist für die Beurteilung, ob der Rücktritt vom betreffenden Pauschalreisevertrag unter „unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umständen“ iSv Art. 12 II RL 2015/2302 erfolgt ist, auf einen bestimmten Zeitpunkt abzustellen.

38Zweitens ist dieser Zeitpunkt, wie sich aus der Feststellung oben in Rn. 29 ergibt, der Zeitpunkt des Rücktritts vom betreffenden Reisevertrag.

39In diesem Zusammenhang ist drittens aus mehreren Gründen eine Auslegung von Art. 12 II RL 2015/2302 geboten, die ausschließt, dass ein nach dem Rücktritt vom betreffenden Reisevertrag liegender Zeitpunkt berücksichtigt werden kann.

40Zunächst liefe es darauf hinaus, dass aus Sicht des Reisenden der Zusammenhang, den diese Bestimmung zwischen einem Rücktritt von einem Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr und dem Auftreten von „unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umständen“ iSd Bestimmung herstellt, vom Zufall abhinge, wenn die Ausübung des dort vorgesehenen Rechts auf einen solchen Rücktritt durch den betreffenden Reisenden an eine Voraussetzung geknüpft würde, von der letztlich nur im Nachhinein festgestellt werden könnte, dass sie erfüllt ist.

41Sodann verpflichtet Art. 12 IV RL 2015/2302 den Veranstalter der Pauschalreise, dem betreffenden Reisenden die für die Pauschalreise geleisteten Zahlungen unverzüglich und „in jedem Fall“ innerhalb von spätestens 14 Tagen nach der Beendigung des Vertrags, insbes. nach dem in Art. 12 II dieser Richtlinie vorgesehenen gebührenfreien Rücktritt, voll zu erstatten. Mit dieser Frist soll gewährleistet werden, dass der Reisende kurze Zeit nach der Beendigung des Vertrags erneut frei über das Geld verfügen kann, das er für die Pauschalreise gezahlt hat (EuGH ECLI:EU:C:2023:449 Rn. 30 = EuZW 2023, 709 – UFC – Que choisir und CLCV (C-407/21)).

42Die Vorgabe einer solchen Höchstfrist deutet darauf hin, dass der Reiseveranstalter grundsätzlich in der Lage sein sollte, unmittelbar nach der Beendigung des betreffenden Pauschalreisevertrags und damit ohne die spätere Entwicklung der Situation abzuwarten, festzustellen, ob die Berufung des Reisenden auf das Recht, von seinem Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr zurückzutreten, gerechtfertigt ist, und, wenn ja, die erforderlichen Schritte zu unternehmen, um zu gewährleisten, dass die volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen innerhalb der vorgeschriebenen Frist erfolgt.

43Schließlich bestätigt das Ziel der RL 2015/2302, das nach ihrem Art. 1 u.a. darin besteht, ein hohes Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten, diese Auslegung.

44Da nämlich zum einen Art. 12 II dieser Richtlinie dem betreffenden Reisenden im Fall des Auftretens „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ ein eigenes Rücktrittsrecht unabhängig von dem Rücktrittsrecht des betreffenden Veranstalters nach Art. 12 III der Richtlinie zuerkennt, muss dieser Reisende, um sein Recht wirksam geltend machen zu können, zum Zeitpunkt des Rücktritts beurteilen können, ob die Voraussetzungen für die Ausübung dieses Rechts erfüllt sind.

45Würde man dagegen die Möglichkeit, dieses Recht auszuüben, von Entwicklungen abhängig machen, die nach der Rücktrittserklärung eintreten, würde dies zu fortdauernder Unsicherheit führen, die erst zu dem für den Beginn der Pauschalreise vorgesehenen Zeitpunkt beseitigt würde.

46Zum anderen könnte es zwar durchaus den Schutz des betreffenden Reisenden verbessern, wenn für die Ausübung des in Art. 12 II RL 2015/2302 verankerten Rechts, von einem Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr zurückzutreten, Entwicklungen, die nach dem Rücktritt von diesem Vertrag, aber vor Beginn der betreffenden Pauschalreise eintreten, als entscheidend angesehen und die Durchführung des Vertrags letztlich tatsächlich verhindern würden. Es könnte jedoch auch umgekehrt dazu kommen, dass sich nach dem Rücktritt von diesem Vertrag herausstellt, dass diese Pauschalreise in Folge einer unerwarteten Verbesserung der betreffenden Situation doch noch durchführbar ist. In diesem Fall würde dem Reisenden nämlich das Recht genommen, von seinem Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr zurückzutreten, und zwar auch dann, wenn er sich zum Zeitpunkt des Rücktritts von seinem Reisevertrag auf eine realistische Prognose der Wahrscheinlichkeit einer solchen Verhinderung gestützt hat.

47Im vorliegenden Fall geht aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts hervor, dass der betreffende Reisende im Ausgangsrechtsstreit unter Berufung auf die fortschreitende Ausbreitung von Covid-19 oder sogar die Entstehung einer Covid-19-Pandemie als „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ iSv Art. 12 II RL 2015/2302 ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr von seinem Pauschalreisevertrag zurücktreten wollte.

48Insoweit hat der EuGH entschieden, dass bei einer weltweiten gesundheitlichen Notlage wie der Covid-19-Pandemie davon auszugehen ist, dass sie unter den Begriff „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ iSv Art. 12 II RL 2015/2302 fallen kann (EuGH ECLI:EU:C:2023:449 Rn.45 = EuZW 2023, 709 – UFC – Que choisir und CLCV).

49Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 12 II RL 2015/2302 dahin auszulegen ist, dass für die Feststellung, ob „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ aufgetreten sind, die iSd Bestimmung „die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“, nur die Situation zu berücksichtigen ist, die zu dem Zeitpunkt bestand, zu dem der Reisende vom Reisevertrag zurückgetreten ist.

Anmerkung von Professor Dr. Ernst Führich*

I. Hintergrund

Auch wenn der Verfasser die Entscheidung des EuGH kritisch betrachtet, gilt es nun, mit dem in der EU verbindlichen Judikat zu „leben“ und die Relevanz für die Branche der Reiseveranstalter und ihrer Reisekunden zu betonen. Im Zentrum der Rechtsfragen im Zusammenhang der Corona-Pandemie steht bis heute das Rücktrittsrecht der Vertragsparteien aus § 651h BGB iVm Art. 12 RL 2015/2302. Hierbei ist inzwischen weitgehend geklärt, dass die Pandemie als Ausbruch einer schweren Krankheit unvermeidbare außergewöhnliche Umstände nach Art. 12 II der Richtlinie darstellt, soweit die gebuchte Pauschalreise am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe objektiv erheblich beeinträchtigt ist (vgl. zuletzt EuGH ECLI:EU:C:2024:181 = BeckRS 2023, 25433 – Tez Tour (C-299/22); Führich/Staudinger Reiserecht-HdB/Staudinger, 9. Aufl. 2024, § 16 Rn. 19). Hierbei spielt es eine entscheidende Rolle, zu welchem Zeitpunkt die Umstände vorliegen müssen. Art. 12 II der Richtlinie und § 651h III BGB machen keine Aussage darüber. Die unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände müssen lediglich bis vor Beginn der Pauschalreise „auftreten“. Damit ist der Zeitraum zwischen Abschluss des Reisevertrags und dem geplanten Reiseantritt gemeint.

Nach seiner Vorlageentscheidung sind aus Sicht des BGH nicht nur Umstände zum Zeitpunkt des Rücktritts des Reisenden, sondern auch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände zu berücksichtigen, die nach dem Rücktritt, aber noch vor dem geplanten Reisebeginn tatsächlich aufgetreten sind wie zB ein staatliches Einreiseverbot. Diese Frage wurde nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Rechtsprechung der Instanzgerichte unterschiedlich beurteilt und dem EuGH mehrmals u.a. auch vom Obersten Gerichtshof Österreichs vorgelegt. So wurde gerade in der Literatur die Auffassung vertreten, dass die Möglichkeit eines risikolosen früheren Rücktritts nicht dazu führen dürfe, dass der Reisende auf die Fortdauer einer sich abzeichnenden Krise spekulieren und das Risiko einer erheblichen Beeinträchtigung auf den Veranstalter abwälzen könnte (Schmidt COVID-19/Staudinger/Achilles-Pujol, 3. Aufl. 2021, § 7 Rn. 26; Ruks RRa 2022, 12 (14); BeckOK BGB/Geib, Stand: 1.4.2024, BGB § 651h Rn. 24; jurisPK/Steinrötter, § 651h Rn. 44.1; Binger RRa 2021, 2027 (210); AG Duisburg 14.12.2020 – 506 C 237720, BeckRS 2020, 37777). Der BGH und gewichtige Stimmen in der Literatur wollten dagegen, unabhängig von den Erkenntnismöglichkeiten im Zeitpunkt des Rücktritts, dem Veranstalter dann eine Stornoentschädigung versagen, wenn die Durchführung der Reise später doch objektiv erheblich beeinträchtigt war oder der Veranstalter mit seiner Reiseabsage selbst vom Vertrag gem. § 651h IV 1 Nr. 2 wegen außergewöhnlicher Umstände zurücktritt (so BGH 2.8.2022 – X ZR 5321, BeckRS 2022, 21810 (Vorlageentscheidung); Harke RRa 2020, 207; BeckOGK BGB/Harke BGB § 651h Rn. 48; Ullenboom RRa 2021, 155 (162)), Führich NJW 2020, 2137 (2140); Führich MDR 2021, 777 (779) und in der Judikatur LG Frankfurt a. M. 10.8.2021 – 2 24 S 31/21, BeckRS 2021, 23370; 14.10.2021 – 2-24 S 40/21, BeckRS 2021, 33155; 24.2.2022 – 2 24 S 113/21, BeckRS 2022, 27566; LG Düsseldorf 25.10.2021 – 22 S 77/21, BeckRS 2021, 55370; AG München 26.5.2021 – 113 C 20625/20, BeckRS 2021, 21314 = RRa 2022, 26; AG Aschaffenburg 18.1.2021 – 126 C 1267/20, BeckRS 2021, 3262; AG Hannover 7.5.2021 – 548 C 7046/20, BeckRS 2021, 22113; AG Stuttgart NJW-RR 2021, 313).

II. Bewertung

Mit dem EuGH und dem vorlegenden BGH ist regelmäßig davon auszugehen, dass zum Zeitpunkt des Rücktritts des Reisenden in einer ex-ante Beurteilung vorausschauend eine Prognose anzustellen ist, ob wahrscheinlich unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände bis zum Reisebeginn auftreten. Entscheidend ist, wenn nach dem vernünftigen Ermessen eines Durchnittsreisenden dieser eine voraussichtliche erhebliche Beeinträchtigung annehmen konnte. Ist dies der Fall, hat der Reisende nach Art. 12 II iVm § 651h III BGB keine „Rücktrittsgebühren“ zu zahlen. Damit trägt der Reisende bei seinem Rücktritt grundsätzlich das Prognoserisiko, wenn sein Rücktritt „vorschnell“ und doch keine erhebliche Beeinträchtigung der Reise oder seiner Anreise zu erwarten war.

Der EuGH stellte mit seiner Auslegung des Art. 12 II der Richtlinie nunmehr allgemeinverbindlich klar, dass für die Feststellung, ob unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände aufgetreten sind, nur diese bestimmte Situation im Zeitpunkt der Rücktrittserklärung zu berücksichtigen ist. Er folgt damit den Schlussanträgen der Generalanwältin und stellt sich gegen die Auslegung durch das höchste deutsche Zivilgericht, wonach die Systematik von Art. 12 I zu II der Richtlinie, der Zweck der Rücktrittsgebühr und der Verbraucherschutz es gebiete auch Umstände zu berücksichtigen, die erst nach dem Rücktritt des Reisenden aufgetreten sind. Obwohl der Wortlaut von Art. 12 II klar auf das Vorliegen außergewöhnlicher, unvermeidbarer Umstände für das Zeitfenster vom Zeitpunkt des Vertragsschlusses bis zum Reisebeginn abstellt und damit keinen Zusammenhang mit dem Zeitpunkt der Rücktrittserklärung herstellt und daher auch nachträgliche Umstände zu berücksichtigen scheint, meint der EuGH aus Gründen der Rechtssicherheit für den Unternehmer nur auf den Rücktrittszeitpunkt des Reisenden abstellen zu müssen. Die Berücksichtigung späterer Entwicklungen bis zum geplanten Reiseantritt würde zu einer fortdauernden Unsicherheit führen, da es dann vom Zufall abhinge, ob und wie hoch eine Rücktrittsgebühr anfiele, was nur im Nachhinein nach der Reise festgestellt werden könnte. Damit stellt der EuGH den Gesichtspunkt der Rechtsicherheit für den Reiseveranstalter über das Ziel der Richtlinie, ein hohes Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten. Ein Rücktritt aus Angst zB vor den Folgen der Corona-Pandemie ohne Vorliegen hinreichender Umstände berechtigt nach Auslegung durch den EuGH den Veranstalter zu der vertraglich vorgesehenen Stornoentschädigung, obwohl nach dem Rücktritt, aber noch vor Reisebeginn, solche Umstände eingetreten sind, die zu diesem Zeitpunkt sehr wohl den Rücktritt ohne Entschädigung gerechtfertigt hätten.

Der EuGH sieht es nicht als unbillig für den Verbraucher an, dass der Veranstalter dann seine Vergütung vom Kunden verlangen kann, ohne selbst einen Schaden zu haben, da die jeweiligen Leistungserbringer wie Airlines oder Hotels in Folge der coronabedingten Unmöglichkeit der Reisedurchführung keinen Vergütungsanspruch gegen den Veranstalter haben und auf ihren Kosten sitzen bleiben. Dies widerspricht nach Auffassung des Verfassers auch offen dem Grundsatz des zivilrechtlichen synallagmatischen Leistungsaustausches. Dass dieser Grundsatz auch durch Art. 12 III der Richtlinie bestätigt wird, wonach der Reiseveranstalter auch im Falle seines Rücktritts durch eine Reiseabsage dem Reisenden alle Zahlungen innerhalb einer Frist von 14 Tagen zu erstatten hat, lässt der EuGH unbeantwortet. Auch das Argument der Unsicherheit bis zum Beginn der Reise wird nicht durch diese Frist des § 651h V BGB bestätigt, da dieser Zeitraum nur die Rückzahlung des vom Reisenden gezahlten Reisepreises betrifft und nicht die Bezifferung des Entschädigungsanspruchs, der sich erst im Rahmen einer Aufrechnung mit dem Rückzahlungsanspruch durch den Veranstalter ergibt, der durchaus auch zu einem späteren Zeitpunkt geltend gemacht werden kann. Zudem kann in der Praxis im Fall einer nicht pauschalierten, sondern individuell zu bestimmenden Entschädigung diese nicht innerhalb dieser kurzen Frist beziffert werden.

III. Praxisfolgen

So verwundert es nicht, dass die Reisebranche das Judikat begrüßte, da es für den EuGH keine Rolle spielt, wenn nach dem Rücktritt des Reisenden, die Reisedurchführung wegen eines später vor Reisebeginn ausgesprochenen staatlichen Einreiseverbots doch noch unmöglich wird und der Veranstalter seine Reise selbst absagt. Gleichwohl ist es wegen der regelmäßig hohen Stornopauschalen in den AGB ab dem 30. Tag vor Reisebeginn, im Interesse des Reisenden, möglichst frühzeitig zurückzutreten. Deswegen hat der Verfasser bereits zu Beginn der Corona-Krise als bloße Faustregel empfohlen, dass für eine Prognose einer Wahrscheinlichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung eine Frist von vier Wochen vor Reisebeginn hilfreich sein könnte. Je kürzer die verbleibende Frist bis zum Reisebeginn ist, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass doch erhebliche Beeinträchtigungen auch im Zeitpunkt zum Reisebeginn bestehen (Führich NJW 2020, 2137). Diese Empfehlung gilt erst recht nach der verbindlichen Auslegung durch den EuGH.

* Der Autor ist Prof. em. für Wirtschafts- und Reiserecht